Darum gehts
- Alec von Graffenried, ehemaliger Berner Stadtpräsident, spricht über seine Abwahl 2024
- Von Graffenried sieht Wahlniederlage als persönliche Verantwortung und lernte Widerstandsfähigkeit
- Er spricht über die umstrittene Palästina-Demo in Bern und YB-Chaoten
Alec von Graffenried (63, Grüne Freie Liste) stand ganz oben. Acht Jahre lang war er Berner Stadtpräsident. 2024 wählten ihn die Bernerinnen und Berner ab. Marieke Kruit (57, SP) wurde die erste Stadtpräsidentin. In der Regierung blieb er gleichwohl – als Sicherheits- und Energiedirektor.
Alec von Graffenried, welches Privileg als Stadtpräsident vermissen Sie am meisten?
Alec von Graffenried: (lacht) Als Stadtpräsident hat man keine speziellen Privilegien. Es gibt keine spektakulären Reisen, wie sie der Bundespräsident hat. Die Aussenpolitik spielt sich in Bern ab, wenn wir Botschafterinnen und Botschafter treffen. Aber ich bin erleichtert, dass der enorme Zeitdruck und die Belastung nachgelassen haben.
Gab es einen Moment, wo sie realisiert haben: «Jetzt bin ich nicht mehr der Mächtigste»?
Macht ist in diesem Zusammenhang ein grosses Wort. Am meisten merke ich, dass ich weniger Informationen zu gewissen Themen bekomme. Dafür kann ich wieder alle Weihnachtskarten persönlich verdanken. Früher waren es zwischen 200 bis 400. Jetzt vielleicht zwanzig.
Wie hat sich die Dynamik in der Gemeinderatssitzung verändert?
Ich habe einen neuen Platz. Um da hinzukommen, muss ich an meinem alten Stuhl vorbei. Ein- oder zweimal wollte ich mich aus Gewohnheit an den falschen Platz setzen. Oder ich lese Stellungnahmen und denke «Das hat meine Präsidialdirektion geschrieben ...» Aber das war nur in den ersten Wochen so.
Hat sich Ihre Rolle verändert?
Natürlich. Die Stadtpräsidentin leitet die Sitzung und muss ständig präsent sein. Nicht alle Themen sind gleich packend. Heute kann ich mich auch mal zurücklehnen. Das war früher undenkbar.
Fühlten sie sich nach dieser Abwahl gekränkt?
Das Resultat war eine böse Überraschung. Aber ich war mehr verärgert als gekränkt. Ich habe mich schlecht verkauft. Mein Team hatte mir schon lange geraten, mehr zu kommunizieren.
Haben Sie aus der Bevölkerung Häme gespürt?
Zumindest nicht offen. Im Gegenteil. Viele Leute haben sich bei mir bedankt. Manche sprechen mich noch immer als Stadtpräsident an. Die korrigiere ich dann. Aber viele sagen, für sie hätte sich das nicht geändert.
Gab es einen Moment, in dem Sie sich gewünscht hätten, gleich ganz abgewählt zu werden?
Nein. Ich habe immer gerne zur Stadt geschaut und kann noch immer sehr viel einbringen. Aber auch bei einer kompletten Abwahl hätte ich einen Plan C gehabt.
Ist die Wahlniederlage für Sie eine persönliche Niederlage?
Ja klar. Ich allein bin dafür verantwortlich.
Was macht das mit einem?
Ohne Netz von Freunden und Familie wäre es schwierig. Sie haben mich extrem unterstützt.
Was haben Sie aus dieser Niederlage für sich persönlich gelernt?
(lange Pause) Ich habe gelernt, widerstandsfähig zu sein, mehr auszuhalten. Aber lange zurückzuschauen oder gar zu hadern, ist nicht meine Art.
Wie lange dauert es, bis man so eine Wahlschlappe verdaut hat?
Das ist schwierig zu sagen. Öffentlich ist es lebenslänglich präsent. Es steht auf Wikipedia und wird wohl auch im Nachruf erwähnt. Aber mir geht es gut. Ich bin längst angekommen.
Aber trifft es Sie, dass die Wahlniederlage möglicherweise noch im Nachruf stehen wird?
(lacht) Ich kann ihn ja nicht lesen. Dort werden auch viele positive Dinge stehen, die ich erreicht habe. Ich habe alle Abstimmungen gewonnen und die Stadt vorangebracht.
Sie haben nach der Wahl die Verteilung der Departemente öffentlich scharf kritisiert. Sie wirkten wie ein schlechter Verlierer. Würden Sie das Interview nochmals so geben?
Ja. Ob ich ein schlechter Verlierer bin oder nicht, sollen alle selber entscheiden. Aber damals passten meine Aussagen. Gute Miene zum bösen Spiel zu machen, ist nicht mein Ding. Die Themen in meiner aktuellen Direktion sind sehr spannend. Wenn wir beispielsweise das Netto-Null-Ziel in 20 Jahren erreichen wollen, müssen wir jetzt die Weichen stellen. Ich habe damit bereits begonnen.
Doch vorerst steht nicht die Klimapolitik im Fokus, sondern die Sicherheit. Im Oktober eskaliert eine unbewilligte Palästina-Demo in Bern: Gewalt, Feuer, Tränengas, über 500 Verhaftungen.
Wie war es, plötzlich wieder im Rampenlicht zu stehen?
Es war nicht die Frage, ob so etwas wieder passiert – sondern wann. Das gehört zu diesem Job: Man muss hinstehen und den Shitstorm aushalten.
Von links kam die Kritik, der Einsatz sei zu hart gewesen, andere hätten gewünscht, dass die Polizei härter durchgreift. Kann man es niemandem richtig machen?
Wenn die Kritik von beiden Seiten kommt, habe ich wohl etwas richtig gemacht. Zum Polizeieinsatz läuft die interne Aufarbeitung, Ergebnisse erwarten wir Anfang nächstes Jahr. Wir haben die Ausschreitungen klar und deutlich verurteilt. Es war furchtbar. Unverständlich.
Inwiefern unverständlich?
Im Juni hatten wir eine bewilligte Demo. Da wurde öffentlich debattiert und dann auch medial über Palästina gesprochen. Im Oktober war nach zehn Minuten klar, dass die Demo eskalieren wird. Ich empfahl den Unbeteiligten im hinteren Teil des Umzugs nach Hause zu gehen, weil man am nächsten Tag nur über die Ausschreitungen reden werde. Sie flehten: «Aber die Sache ist doch so wichtig!» Doch die Gewalt hat alles übertönt. Das ist tragisch.
Sie sprachen davon, die Kosten für die Demo den Chaoten überwälzen zu wollen. Wie viele Einzahlungsscheine haben Sie schon verschickt?
Noch keine. Im Kanton Bern können nach einer Demo nur rechtskräftig verurteilte Straffällige für die Polizeikosten belangt werden. Soweit sind wir noch nicht. Aber die Kantonspolizei hat 536 Personen kontrolliert. Wer verurteilt wird, erhält einen Einzahlungsschein.
Nicht nur wegen der Palästina-Demo, auch bei der Reitschule kam es in der Vergangenheit öfters zu Ausschreitungen. Bei einem Auswärtsspiel in England wurden YB-Fans verhaftet.
Ist Bern eine Chaoten-Stadt?
Nein. Ich bin froh, ist die Stadt lebendiger und bunter geworden – und nicht mehr so verschlafen wie früher. Bern ist zusammen mit Winterthur die sicherste Stadt der Schweiz. Beim Umgang mit den Fussball-Chaoten haben wir aber ein ernsthaftes Problem.
Inwiefern?
Die bisherigen Lösungen funktionieren nicht. Die Clubs nehmen das Problem zu wenig ernst und Behörden sind viel zu weit weg. Wir brauchen andere Ansätze.
Woran machen Sie das fest?
Die Behörden schiessen momentan am Ziel vorbei. Das Kaskadenmodell bringt nur wenig und personalisierte Tickets sind ein Irrweg. Die Krawalle finden schliesslich ausserhalb des Stadions statt. Das grösste Problem liegt woanders.
Wo?
Clubs und Behörden schieben das Problem hin und her, statt ein gemeinsames Bewusstsein zu entwickeln und gemeinsam Lösungen anzugehen. Die Spaltung zwischen Clubs und der Liga einerseits und den Behörden andererseits ist Gift und muss dringend überwunden werden. Lösungen gelingen nur mit einem entschiedenen gemeinsamen Vorgehen.
Wie könnten dieses aussehen?
In Basel stellte sich der ehemalige FCB-Präsident Bernhard Heusler vor einigen Jahren vor die Fans und sprach Klartext. Sowas wäre jetzt nötig. Und: Sektorsperren im Heimsektor und personalisierte Tickets werden keine Lösung bringen. Zielführend wäre das Unterbinden von Fanreisen und das Sperren des Gästesektors. Von dort aus entzünden sich die meisten Probleme mit den Hooligans.