Darum gehts
- Putin testet die Nato. Russland droht Finnland
- Drohungen sollen von eigentlichem Ziel Putins ablenken
- Nato ist im Zahlenvergleich stärker, steht aber vor Problemen
Militärmanöver, Drohnen in Polens Luftraum, Russen-Jets über Estland und Machtrhetorik: Wladimir Putin (72) testet aktuell die Nato.
Nun lässt der frühere Generalstabschef der italienischen Streitkräfte, Vincenzo Camporini (79), mit einer brisanten Rechnung aufhorchen. «Wir (die Italiener, Anm. d. Red.) haben 95'000 Soldaten und könnten jeweils 15'000 bis 20'000 an die Front schicken. Die Briten haben 70'000. Und die Russen haben 600'000.» Weiter stellt er fest: «Wir sind nicht auf einen russischen Angriff oder einen Angriff eines anderen Landes vorbereitet.»
Finnland in Gefahr?
Zuletzt drohte Moskau vor allem Finnland. Der russische Aussenminister Sergej Lawrow (75) behauptete am Donnerstag, die neutrale Fassade der finnischen Regierung sei abgefallen und der Revanchismus in Finnland nehme «buchstäblich zu». In der vergangenen Woche drohte der Vizechef des russischen Sicherheitsrats, Dimitri Medwedew (60), dem jungen Nato-Mitglied in einer Kolumne für die Kreml-Nachrichtenagentur Tass. Finnland dürfe nicht «vergessen», dass eine Konfrontation mit Russland «für immer zum Zusammenbruch der finnischen Staatlichkeit führen könnte». Der russische Ex-Präsident behauptet steif und fest, Finnland befinde sich auf Konfrontationskurs mit Russland. Dabei ist es der Kreml, der die Militärbasen an der Grenze zu Finnland aktuell ausbaut.
Wie real ist die Gefahr für das Land? Und kann es Russland aktuell überhaupt mit der Nato aufnehmen? Das wollte Blick von Klemens Fischer wissen. Er ist Professor für Internationale Beziehungen und Geopolitik an der Universität in Köln (D).
Drohungen gegen Finnland, Kampfjets über Estland
Gleich zu Beginn stellt Fischer eine Sache klar: «Die übrigen direkten Nato-Nachbarn Estland und Lettland sind für Russland keine
Herausforderung, Finnland hingegen war bis zu seinem Nato-Beitritt ein neutraler Puffer.» Dabei seien es nicht die rund 20'000 Soldaten Finnlands, die Putin stören würden – «sondern deren Ausbildung und die technologisch auf dem neuesten Stand befindliche Ausrüstung».
Die Strategie der Russen fasst Fischer so zusammen: «Einerseits versucht Russland Finnland einzuschüchtern, zum anderen lenkt Russland aber auch davon ab, dass das eigentliche Ziel der Destabilisierung das Baltikum ist.» Dieses Vorgehen konnte man in den vergangenen Tagen gut beobachten. Erst Drohungen gegen Finnland, dann starten die Kampfjets in Richtung Baltikum.
Luftabwehr-Bilanz ist mau
Dass Moskau einen Angriff auf Finnland startet, schätzt Fischer als unwahrscheinlicher ein als eine Attacke auf einen der baltischen Staaten. Das liegt auch an der finnischen Bevölkerung. «Sie ist ein perfektes Beispiel für Resilienz und Verteidigungsbereitschaft», erläutert der österreichische Geopolitikexperte. «Zu den aktiven Streitkräften von 20'000 Soldaten kommt eine Reservistenarmee in einer Gesamtstärke von 900'000 Soldaten», weiss Fischer. Kein leichter Gegner also.
Und insgesamt? Im reinen Zahlenvergleich steht die Nato deutlich besser da als Russland. Vorausgesetzt, die USA bleiben im Bündnis.
Das Bündnis steht dennoch mit Blick auf die Bedrohung in Osteuropa weiter vor mehreren Problemen. Die europäischen Armeen seien derzeit kaum in der Lage, einem russischen Angriff eine adäquate Verteidigung entgegenzustellen, erklärt Fischer. Das zeigte sich etwa bei den russischen Drohnenflügen in Polen, wo von 19 Drohnen nur vier vom Himmel geholt werden konnten. Hinzu kommt: Allein in der EU gibt es 178 Waffensystemtypen und 17 verschiedene Panzermarken, berichtet die BBC. Dieses Tohuwabohu zu koordinieren, ist eine Herkulesaufgabe.
Und Fischer sieht noch ein weiteres Problem. Die Ukraine könne ihren Abwehrkampf nur fortsetzen, wenn die Europäer die dafür notwendigen Waffen und Munitionsmengen liefern. Nun liebäugelt Putin aber augenscheinlich mit Angriffen auf Nato-Mitgliedsstaaten, deren Arsenale bereits ausgedünnt sind. «Der Verteilungskampf zwischen der Nato und der Ukraine um die militärischen Ressourcen ist in vollem Gange», konstatiert Fischer.