Gurgl in Österreich, der Nabel der Ski-Welt an diesem Wochenende? Könnte man meinen. Hunderte Athleten sind hier, Männer und Frauen. Und auch viele Betreuer. So wie in Sölden (Ö) und in Levi (Fi) – der Weltcup zelebriert zum dritten Mal nacheinander das Geschlechter-Doppel.
Bloss: An diesem Freitag ist alles anders. Die Slaloms sind auf einmal nicht mehr so interessant. Und dafür gibt es einen triftigen Grund.
8500 Kilometer westlich von Gurgl, in Copper Mountain (USA), stürzt eine Fahrerin beim Super-G-Training. Sie ist verletzt. Im Westen nichts Neues, könnte man meinen. Stürze gehören schliesslich zum Skisport dazu. So wie der Speck zum heimischen Tiroler Knödel. Tönt brutal? Ja. Ist aber so.
Doch diesmal ist der Fall anders. Denn in Copper Mountain ist nicht irgendeine Fahrerin zu Fall gekommen. Nein, es ist Lara Gut-Behrami (34) – eine der grössten Figuren der Ski-Geschichte, die auf den letzten Metern ihrer grossen Karriere ist. In ihrer letzten Saison, welche mit den Olympischen Spielen gekrönt werden soll.
Auch in Copper Mountain ist Aufregung gross
Auf Gut-Behramis Visitenkarte steht: Gesamtweltcup, Olympia- und WM-Gold, dazu 48 Weltcupsiege. Die Tessinerin hat alles gewonnen. Und sie ist seit 17 Jahren einmalig, auch eigensinnig, eine Persönlichkeit, die niemanden kaltlässt, die polarisiert. Man mag sie oder nicht – Grautöne gibt es wenig.
Entsprechend gross ist die Aufregung in der kleinen Gemeinde auf 1900 Meter über Meer. Was ist genau geschehen? Wie schlimm hat sich Gut-Behrami verletzt? Ist ihre Karriere vorbei? Viele Fragen. Wir rollen den verrückten Tag von vorne auf.
«Rufe zurück» heisst oft nichts Gutes
Es ist 7:22 Uhr, als uns bei Blick eine Whatsapp-Meldung erreicht. Sie ist kurz und knackig. Das heiss oft nichts Gutes. Das Telefonat danach bestätigt die geäusserte Vermutung. Lara Gut-Behrami ist beim Training in Copper Mountain gestürzt. Dort bereitet sich das Ski-Ass, das kein Slalom fährt, auf die kommenden Speed-Rennen vor. Folgendes ist passiert: Mit 80 oder 90 km/h bleibt Gut-Behrami an einem Tor hängen. Sie soll eine Gehirnerschütterung erlitten haben, dazu soll ein Kreuzband gerissen sein. Auch der Meniskus sei betroffen.
Anruf bei Swiss-Ski. Stimmt die Information? Niemand geht ans Handy – egal ob Kommunikationschef, Trainer oder Manager. «Rufe zurück», schreiben sie. Oder: «Bin beschäftigt.» Einige antworten gar nicht erst. Das alles weckt keine guten Gefühle.
Offensichtlich tut sich was. Einer, der den Hörer abnimmt, ist Rainer Salzgeber. Er ist Rennchef bei Head, also Gut-Behramis Ausrüster. Er ist in Österreich, hat Gut-Behramis Sturz aber auf einem von Swiss-Ski gedrehten Video gesehen. «Er war heftig», berichtet er. Sie sei bei einer Bodenwelle mit der Hand an einem Tor hängengeblieben. «Danach überschlug sie sich. Ein kapitaler Sturz.»
Ausmass der Verletzung? Unbekannt
Um 09:20 Uhr meldet sich Swiss-Ski telefonisch. Der Verband bestätigt den Sturz, schon bald würde eine Medienmitteilung versendet. Konkretes werde darin aber nicht mitgeteilt, heisst es. Und es sei auch noch nicht möglich, mit Trainern oder Ärzten zu reden. Wir veröffentlichen die Geschichte auf den Online-Portalen von Blick. Die Bombe ist geplatzt. Die Meldung verbreitet sich in Windeseile, sogar Österreichs Radiosender Ö3 schickt die Nachricht über den Äther. Gut-Behrami interessiert längst nicht nur in der Schweiz.
Gut zehn Minuten später, um 9:47 Uhr, trifft das Communiqué von Swiss-Ski ein. «Erste Abklärungen vor Ort deuten auf eine Verletzung am linken Knie hin», heisst es. Gut-Behrami werde für eine «umfassende medizinische Untersuchung» so rasch wie möglich in die Schweiz zurückkehren. «Zum Ausmass der Verletzung wird erst nach diesen Untersuchungen eine Aussage möglich sein», heisst es weiter. Sprich: gegen Ende nächster Woche.
Der Kniespezialist meint: «Kreuzbandriss. Und mehr»
So lange fackelt Olivier Siegrist nicht. Um 14:08 veröffentlicht «Le Nouvelliste» brisante Aussagen des pensionierten Arztes. Siegrist? Er hat Ex-Ski-Stars wie Didier Cuche (51), Didier Défago (48) und auch Justin Murisier (33), der immer noch aktiv ist, erfolgreich operiert. Und auch Gut-Behrami nach ihrem Kreuzbandriss 2017. «Ihr vorderes Kreuzband und ihr Innenband sind gerissen. Sie hat ebenfalls eine Meniskusverletzung erlitten», lässt er sich zitieren.
Siegrist hatte Kontakt mit Gut-Behrami. Ein MRI aus Frisco (USA), wo sie untersucht wurde, wohl ganz genau angeschaut. Oder reichte ein kurzer Blick, weil die Sachlage schnell klar war? Sicher ist: Siegrist ist einer der renommiertesten Kniespezialisten der Schweiz. Er erklärt: «Lara hat mich angerufen und gesagt, dass sie mich sehen möchte, weil ich ihr Knie kenne.» Er werde Gut-Behrami in Genf zusammen mit seinem Nachfolger Julien Billières untersuchen, so Siegrist.
Im näheren Umfeld Gut-Behramis ist niemand wirklich optimistisch. Die meisten gehen vom Schlimmsten aus. Besonders tragisch: Gut-Behrami befindet sich in diesem Winter auf Abschiedstournee. Eine schlimme Verletzung könnte auch das Ende ihrer grossartigen Karriere bedeuten. Der Traum, in Cortina (It) im kommenden Februar letztmals bei Olympischen Spielen teilzunehmen, wäre damit ausgeträumt. «Ich will nicht, dass eine Verletzung meine Karriere beendet. Ich will selbst entscheiden können, wann es vorbei ist», hatte Gut-Behrami unter Tränen vor einem Jahr in Sölden (Ö) gesagt – damals hatte sie vor dem Rennen das Knie gespürt. Nun droht ihr genau dieses Schicksal.
Gut-Behramis Abfahrtstrainer Stefan Abplanalp ist in Copper Mountain. Er kontert: «Sollte der Supergau eintreffen, sich eine schlimme Verletzung bestätigen, schliesse ich nicht aus, dass Lara sich überlegen würde, doch noch weiterzumachen. Und nochmals Anlauf nimmt.»
«Es war ein Fahrfehler»
Derweil sickern neue Infos zum verhängnisvollen Training in Copper Mountain durch. Die Hektik sei vor und während des Trainings, an dem Gut-Behrami teilnahm, gross gewesen. Das Gedränge auch. Kein Wunder: Viele Teams bereiten sich in Colorado auf die kommenden Rennen vor. Dazu kommt, dass wegen der geringen Schneemengen viele Pisten nur verkürzt befahren werden können. Die Sicht sei nicht perfekt gewesen und das Licht flach, heisst es.
All dies ist aber nicht aussergewöhnlich. Gut-Behrami hat schon tausende Male so trainiert. Auch der aggressive, typisch amerikanische Schnee bereitet ihr im Normalfall keine Probleme. «Die Bedingungen waren nicht schuld an ihrem Sturz, es war ein Fahrfehler», bestätigen mehrere Quellen.
Ein Fahrfehler? Das ist bei Gut-Behrami eine Seltenheit. Seit ihrem Kreuzbandriss an der Heim-WM 2017 in St. Moritz stürzte sie in 165 Rennen nur einmal – 2021, ausgerechnet erneut in St. Moritz. Eine unglaubliche Bilanz. Dabei heisst es immer wieder: Wer nicht alles riskiert, hat keine Chance! Bei Gut-Behrami ist dies anders. Sie gewinnt immer wieder, weil sie den meisten taktisch und technisch überlegen ist.
Corinne Suter (31) stand am Start zum Trainingslauf, als über Funk die Nachricht kam, dass etwas passiert sei. Danach gibt es einen langen Unterbruch. «Das war keine einfache Situation», sagt Suter.
Verrückte Wende: Plötzlich gibt es Hoffnung
Zurück nach Gurgl. Die Dunkelheit verdrängt das Tageslicht, es schneit leicht. Und Frauen-Cheftrainer Beat Tschuor sorgt kurz nach 17 Uhr im Hotel «The Moss» in Obergurgl für eine überraschende Wendung in der Causa Gut-Behrami. Er will nichts von der fatalen Diagnose Siegrists wissen, spricht von «reinen Spekulationen» und darüber, dass Hoffnung bestehe – auch, dass Gut-Behrami tatsächlich bei den Olympischen Spielen an den Start gehen könnte.
Nur die Hirnerschütterung sei Fakt, die Schwere der Knieverletzung aber keinesfalls, so Tschuor. «Von unseren Ärzten in den USA kam klar die Information, dass wir erst im Spital in Genf Gewissheit haben werden. Wahrscheinlich gegen Ende nächster Woche.»
Vor dem Znacht reden die Schweizer Slalom-Frauen im «The Moss». Sie schwanken zwischen «mega Mitleid» (Aline Danioth) und «Hoffnung, dass es nicht so schlimm ist» (Wendy Holdener). Slalom-Weltmeisterin Camille Rast (26) erreicht nach einem Auto-Marathon – sie stand lange im Stau – das Hotel. Und meint: «Skifahren kann ein undankbarer und grauenvoller Sport sein. Es passiert alles so schnell – sowohl im Guten, wie auch im Schlechten.» Eine Nachricht habe sie Gut-Behrami nicht geschickt. «Ich denke, Lara hat auch so schon viel um die Ohren», so Rast.
Gut-Behrami ist zurück in der Schweiz
Irgendwann endet dann dieser verrückte Ski-Tag, an dem es nicht einmal ein Rennen gab. In Gurgl ist man froh, dass schon am nächsten Morgen der Männer-Slalom ansteht und am Sonntag der Frauen-Slalom.
Das Motto: Zurück zum Sport, weg von den Sorgen. Es ist auch eine Art Flucht vor schlechten Gedanken. Gut-Behrami ist am Samstag mit dem Flieger zurück in die Schweiz geführt worden. Nach Genf, wo sie weiter untersucht wird. Ehe keine offizielle Diagnose bekannt wird, bleibt nur etwas: Ungewissheit.