Die Seele des Lötschentals
Wo Masken, Mythen und Mut überleben

Die Dörfer im Tal der Naturkatastrophe waren schon immer anders als der Rest des Wallis. Ihre Rituale, ihr Stolz und ihr Wille zur Selbstbestimmung haben tiefe Wurzeln – die sich gerade jetzt bewähren.
Publiziert: 01.06.2025 um 13:57 Uhr
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Narrenfreiheit: Die Fasnacht wird im Lötschental mit den Tschäggättä begangen.
Foto: Keystone

Darum gehts

  • Lötschental zeigt Zusammenhalt nach Bergsturz. Grosse Solidarität für Blatten
  • Tal bekannt für Selbstbestimmung und starke Traditionen wie Tschäggättä-Verkleidungen
  • 1790 kauften sich Einheimische für 10'000 Kronen von Freiherren frei
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Lino SchaerenRedaktor

Nachdem ein Bergsturz und der Gletscherabbruch vom Mittwoch das Dorf Blatten ausradiert haben, zeigt sich die ganze Schweiz betroffen. Spendengelder sprudeln. Besitzer und Besitzerinnen von Ferienhäusern bieten obdachlos gewordenen Blattnern via Blick ihre Wohnungen im Lötschental an. Und nicht allein die evakuierten Dörfler, das ganze Tal ist dankbar für jede Hilfe – eine Gemeinschaft, die sich bis zum «Ground Zero», wie Blatten-Gemeindepräsident Matthias Bellwald (63) die Naturkatastrophe nennt, gerne zurückgezogen und auf sich selbst besonnen hat.

Das Lötschental ist Teil des Oberwallis – und auch nicht. Die Einwohnerschaft der vier Dörfer Ferden, Kippel, Ried und Blatten ist in der Umgebung bekannt dafür, für sich selbst zu schauen, selbstbestimmt, traditionsbewusst. Häufig wird das Tal als «Kanton Lötschen» bezeichnet.

Wie das kommt? Ignaz Bellwald (85) ist Lokalhistoriker aus Kippel, hat mehrere Bücher über das Tal und seine Dörfer geschrieben. Seine Antwort: «Die Eigenheiten der Talbevölkerung gehen auf die jahrhundertelange Unterdrückung zurück.»

Das Tal hat sich freigekauft

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Seit dem 15. Jahrhundert stand das Lötschental unter Verwaltung von Freiherren. Die Einheimischen hatten nichts zu sagen, mussten aber alljährlich eine Abgabe entrichten. Erst 1790 gelang es der lokalen Bevölkerung, sich von ihren Herrschern freizukaufen, für den horrenden Betrag von 10’000 Kronen. «Heute wären das ein paar Millionen», sagt Bellwald. Um sich die Freiheit erkaufen zu können, hätten die Dörfer gemeinsam eisern gespart: «Man hat immer zusammengehalten», so der Lokalhistoriker, «das ist für uns selbstverständlich.»

Dass die Bewohnerinnen und Bewohner Wert auf dieses Vermächtnis legen, zeigt sich bis heute eindrücklich am gelebten Brauchtum. Das Tal ist bekannt für seine fantasievollen Tschäggättä-Verkleidungen: Zur Fasnachtszeit ziehen gruselige Gestalten alljährlich mit fratzenhaften, grossen Holzmasken durch die Gassen und treiben ihr Unwesen. 

Das Spektakel zieht mittlerweile zahlreiche Auswärtige an, Holzmasken werden online für viel Geld als Sammlerstücke feilgeboten.

Auch die Fronleichnamsprozession mit allerlei kostümierten Gruppen und Musik gehört zur Tradition der Lötscher. Ein besonderes Schauspiel ist dabei der Auftritt der sogenannten Herrgottsgrenadiere in historischen Uniformen, die den Allerheiligsten durchs Dorf geleiten und beschützen. Sie erinnern an die jungen Lötscher, die in der Vergangenheit aus dem abgelegenen Tal auszogen, um sich als Söldner zu verdingen. Zum Brauchtum gehört, dass die militärischen Kleidungsstücke innerhalb der Familie weitervererbt werden.

Gefühl der Unterdrückung

Das Festhalten an Überlieferungen, die andernorts längst verschwunden sind, und das Gefühl der Zusammengehörigkeit im Tal führt Ignaz Bellwald auch auf die sakrale Prägung zurück. Die Kirche ist Mittel- und Treffpunkt der Dörfer. Aber nicht nur: Bellwald glaubt: «Das Gefühl der Unterdrückung der Bevölkerung des Lötschentals wurde über Generationen unbewusst vererbt.» Entsprechend stark sei der Drang, selbstbestimmt durchs Leben zu gehen und Identitätsstiftendes beizubehalten.

Zumindest das Gefühl, zu den Unterdrückten zu gehören, könnte durch die riesige Solidarität gemildert werden, die Blatten und das Lötschental gerade erfahren.

Dabei machten Gemeinde und Kanton bereits zwei Tage nach dem Unglück klar, dass Mitgefühl allein nicht ausreichen wird. Es brauche vor allem finanzielle Hilfe, um Blatten wieder aufbauen zu können. «Solidarität ist schön. Aber wir wissen, dass es nicht schnell geht», sagte Matthias Bellwald am Freitag. Dem Tal den Rücken zu kehren, kommt für den Gemeindepräsidenten von Blatten nicht infrage. Er hat zwar sein Dorf verloren, nicht aber die Gemeinde. 

Die 300 Evakuierten sollen dereinst wieder in ihr Dorf zurück. Und weiterhin selbstbestimmt leben.

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