Blick-Reporterin Helena Graf (27) über den 20. Femizid in diesem Jahr
«Eine Frau wird ermordet – und ich fühle nichts»

Frauenmorde gehören in der Schweiz zum Alltag. Ihre Zahl hat in den letzten Jahren zugenommen, obwohl diese Verbrechen öfters thematisiert werden. Wir dürfen nicht in Gleichgültigkeit versinken.
Publiziert: 21.08.2025 um 17:03 Uhr
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Aktualisiert: 21.08.2025 um 20:31 Uhr
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Blick-Reporterin Helena Graf recherchiert Tötungsdelikte vor Ort und berichtet über Gerichtsprozesse.
Foto: Foto: Ringier Medien Schweiz, 14.02.24 Mitarbeiterportrait. Helena Schmid, Reporterin Blick, Ringier.

Darum gehts

  • 20 tote Frauen in achteinhalb Monaten in der Schweiz
  • Viele Opfer haben vor der Tat einmal Hilfe gesucht
  • In Spanien gibt es spezielle Hotlines und Software für gefährdete Frauen
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Helena GrafReporterin

20 tote Frauen und Mädchen in achteinhalb Monaten. 9 Schweizerinnen, 3 Rumäninnen, 3 Algerierinnen, 1 Kamerunerin, 1 US-Amerikanerin, 1 Syrerin, 1 Kosovarin und 1 Mazedonierin.

15 mutmassliche Täter. Ehemänner, Söhne, Väter. Sieben Schweizer, zwei Kosovaren, ein Grieche, ein Rumäne, ein Syrer, ein Bulgare, ein Algerier und ein Unbekannter.

Ich trage die Zahlen zusammen. Je nach Definition sind es gar noch mehr Opfer. Ich zähle nur jene, wo die Polizei von einem Tötungsdelikt ausgeht. 20 also. Ich schreibe die Zahl auf und fühle nichts. Nicht mehr.

«Laut einer Nachbarin war es eine unauffällige Familie»
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Blick-Reporter vor Ort:«Polizisten schossen dem Mann zweimal in den Unterleib»

Frauenmorde gehören zum Alltag. Polizeimeldungen in meinem Postfach. Gerichtsprozesse auf der Verhandlungsliste. Schockierte Nachbarn am Tatort. Sie sagen oft dasselbe: «Täter und Opfer wirkten wie eine normale Familie.»

Eine grausame Normalität. Alle eineinhalb Wochen tötet in der Schweiz ein Mann seine Partnerin oder Ex. Manchmal auch deren Kinder oder Eltern. Noch viel häufiger bleibt es beim Versuch.

Nicht nur wir Journalisten haben uns daran gewöhnt. Ich erzähle meiner grossen Schwester von den Fällen. Sie liest Bücher über patriarchale Gewalt. Wir diskutieren, ohne weiterzukommen. Die Realität lässt uns hilflos zurück – bis wir irgendwann kaum noch etwas fühlen. Das ist einfacher auszuhalten.

Manchmal kommen Emotionen hoch. Meistens Wut oder Verzweiflung. Etwa wenn die Verteidigerin vor Gericht die Verstorbene durch den Dreck zieht: Sie hatte mit anderen Männern Sex, war eine schlechte Mutter, drohte auch. Sie hatte psychische Probleme, wollte ihn zerstören.

Die Erzählung des durchgeknallten Opfers, der hysterischen Frau. Sie wiederholt sich vor Gericht, im Gespräch mit Kollegen, sogar im eigenen Freundeskreis. Sie sitzt tief. Und sie führt dazu, dass Frauen nicht ernst genommen werden.

Bei allen Frauenmorden gab es Anzeichen. In vielen Fällen kam es bereits zu einem früheren Polizeieinsatz oder einer Meldung bei den Behörden. Der Täter des jüngsten Femizids in Corcelles NE wurde mehrfach von seinem späteren Opfer angezeigt und 2020 wegen Sachbeschädigung verurteilt.

Ivonne R. (†30) wurde im Oktober 2023 von Ex-Mann Pascal D. tot geprügelt.
Foto: zVg

Manchmal weiss nicht die Polizei, aber das Umfeld Bescheid. Ich begleitete den Mordprozess gegen den Ex-Partner von Ivonne R.* (†30). Ihre Mutter erzählte mir, Ivonne habe in Angst gelebt. Doch ohne konkrete Drohung oder Gewalttat konnte die Polizei nichts machen. Und Ivonne R.s Ex prügelte sie zu Tode.

In Spanien können sich Frauen wie sie an eine eigene Hotline wenden. Wenn sie sich bei der Polizei melden, kommt eine spezielle Software zum Zug. Sie schätzt das Risiko ein. Je nach Gefahrenstufe werden Frauen 24 Stunden bewacht. Kommt es doch zu einem Delikt, ermittelt eine separate Behörde für geschlechterspezifische Gewalt.

Juli 2019: Mein erster Artikel zum Thema Femizid.
Foto: Blick

Es ist sechs Jahren her, seit ich für den Blick zum ersten Mal über Femizide geschrieben habe. Auch in der Schweiz hat sich seither einiges getan. Die meisten Politiker sind sich der Problematik bewusst. Stalking wird unter Strafe gestellt. Feministische Gruppen dokumentieren die einzelnen Fälle. Und dennoch zählte ich damals durchschnittlich einen Frauenmord alle 15 Tage. Und heute alle 10.

Wir sind es uns bewusst. Und trotzdem schaffen wir es nicht, Frauen zu schützen. Ich erlebe selbst, wie Hilflosigkeit einen gleichgültig machen kann. So weit darf es nicht kommen. Wir müssen den Schmerz der Opfer und deren Familien teilen – uns gegen Ohnmacht und Taubheit wehren. Dann haben wir vielleicht die Kraft, etwas zu verändern.

*Name der Redaktion bekannt 

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