Co-Chefin der Frauenhäuser
«Diese Frauen benötigen eine Krisenintervention und kein Hotel»

18 Femizide gab es in der Schweiz im letzten Halbjahr. Das ist mehr als im ganzen Jahr 2024. Blertë Berisha, die Co-Geschäftsführerin der Dachorganisation der Frauenhäuser (DAO), schlägt Alarm und erklärt, wo Handlungsbedarf besteht.
Publiziert: 20.06.2025 um 19:51 Uhr
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Blertë Berisha, Co-Chefin der Dachorganisation der Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein (DAO), ist erschüttert wegen der hohen Zahl an Femiziden. Sie fordert, dass alle politischen Ebenen die Dringlichkeit erkennen und handeln.
Foto: Nathalie Jufer

Darum gehts

  • Femizide in der Schweiz nehmen zu, Frauenhäuser sind überlastet
  • Prävention und Täterarbeit sind zentral für Bekämpfung von Femiziden
  • 23 Frauen- und Mädchenhäuser in der Schweiz sind an der Belastungsgrenze
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Pascal ScheiberReporter Gesellschaft

Mit dem Dreifachmord in Egerkingen SO und Hägendorf SO diese Woche kam es dieses Jahr bereits zu 18 geschlechtsbezogenen Tötungsdelikten – kurz Femizide. Das sind mehr als im ganzen Jahr 2024. Überrascht Sie das?
Blertë Berisha: Leider nicht. Es ist erschütternd, dass bereits zur Jahreshälfte mehr Frauen aufgrund ihres Geschlechts ermordet wurden. Das ist ein warnendes Alarmsignal. Wir beobachten seit Jahren eine erschreckend hohe Zahl an Feminiziden. (Anmerkung der Redaktion: Der Begriff «Feminizid» ordnet die Ermordung von Frauen als Massenverbrechen ein und benennt die Verantwortung der Staaten.) Jeder davon ist einer zu viel. Das sind weder Einzelfälle noch Zufälle, sondern ein Zeichen einer tief verankerten patriarchalen Struktur in unserem Land. Der weltweite Backlash, dass wieder konservative Geschlechterrollen propagiert, dass Abtreibungsverbote erlassen und Gewaltbilder verherrlicht werden, nährt diesen Boden. 

Widerspiegelt sich dies auch bei der Auslastung der Frauenhäuser?
Unsere 23 Frauen- und Mädchenhäuser sind seit Jahren am Anschlag und an ihrer Belastungsgrenze – in allen Regionen der Schweiz. Wir müssen Wartelisten für gewaltbetroffene Frauen einführen. Wir müssen Frauen sogar in Hotels unterbringen. Das darf nicht passieren! Diese Frauen benötigen eine Krisenintervention und kein Hotel. Wenn Frauen zu uns kommen, müssen wir sofort reagieren – wie auf der Notfallaufnahme im Spital. Frauenhäuser bieten Sicherheit und Schutz.

Wo mangelt es in der Schweiz an präventiver Arbeit zur Vermeidung von Femiziden?
Zentral ist die Prävention in Schulen, Jugendtreffs, Betrieben und Behörden. Die Täterarbeit ist ebenfalls wichtig. Wer bereits Gewalt ausübte, soll durch Behörden zu Therapien verpflichtet werden. Es wird schon etwas getan, aber es gibt klar Luft nach oben. In der Justiz und Polizei sollten alle Fachpersonen konkrete obligatorische Schulungen besuchen. Ebenso braucht es eine klare Datenerfassung zu Feminiziden. Und letztlich muss sich die gesamte Gesellschaft damit auseinandersetzen. 

Mit einer Petition fordern Sie vom Bundesrat 350 Millionen Franken für Frauenhäuser, Beratungsstellen, Prävention und Täterarbeit. Letzte Woche trafen Sie Bundesrätin Baume-Schneider. Fanden Sie Gehör?
Sie hat uns zugehört und erkannte die Dringlichkeit der aktuellen Lage. Sie hat die Arbeit der Frauenhäuser wertgeschätzt. Das hat eine starke symbolische Kraft für uns und all unsere Mitarbeitenden. Für uns ist klar: Der Bund muss noch mehr tun, damit sich die Lage entspannt – Worte alleine reichen nicht aus. Die Anerkennung dieser Dringlichkeit ist auch vonseiten der Kantone nötig – alle föderalen und politischen Ebenen sind verantwortlich. Die Istanbul-Konvention gibt vor, was zu tun ist. Leider mangelt es in einigen Kantonen an der Umsetzung – oder dem politischen Willen dazu. 

Wo konkret?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die Kantone Glarus, Jura, Nidwalden, Obwalden, Uri, Schaffhausen und Schwyz haben kein einziges Frauenhaus – teils sogar auch keine Leistungsvereinbarung mit anderen Kantonen. In einem reichen Land wie der Schweiz darf der Opferschutz nicht vom Wohnort abhängen! 

International gesehen gibt es grosse Unterschiede.
Im Vergleich mit anderen Ländern steht die Schweiz nicht gut da. Das bestätigte auch eine Expertengruppe des Europarats. Ein positives Beispiel: Spanien konnte die Feminizidrate dank konkreten Lösungen sehr früh reduzieren. Die flächendeckende Präventionsarbeit, Fussfesseln, eine sensibilisierte Justiz half ihnen dabei. Damit das möglich ist, muss die Bekämpfung von Feminiziden politische Priorität geniessen.

Von Gewalt betroffen? Hier bekommen Sie Hilfe
  • Eine Liste mit Frauenhäusern, Beratungsstellen und Nottelefonen schweizweit
  • Opferhilfe Schweiz
  • Beratungsstelle für Frauen gegen Gewalt in Ehe und Partnerschaft (BIF)
  • Dachorganisation Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein
  • Frauen-Nottelefon: 052 213 61 61
  • Dargebotene Hand: 143
  • Polizei: 117
  • Ambulanz: 144
  • Eine Liste mit Frauenhäusern, Beratungsstellen und Nottelefonen schweizweit
  • Opferhilfe Schweiz
  • Beratungsstelle für Frauen gegen Gewalt in Ehe und Partnerschaft (BIF)
  • Dachorganisation Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein
  • Frauen-Nottelefon: 052 213 61 61
  • Dargebotene Hand: 143
  • Polizei: 117
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