Milena Moser über ein Treffen wie in alten Zeiten
Der umständliche Gentleman

Sich vertraut als Freunde treffen, es scheint so einfach. Bis Theresa einen Gast in die Runde eingeladen hat, der mich nun anders auf die Welt blicken lässt.
Publiziert: 01.09.2025 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 01.09.2025 um 18:16 Uhr
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Milena Moser mag regelmässige Abendessen in geselliger Runde.
Foto: Getty Images/Westend61

Darum gehts

  • Milena Moser trifft eine Freundin, die immer wieder neue Gäste zusammenbringt
  • Jim bereichert die Runde mit spannenden Perspektiven
  • In unsicheren Zeiten zeigt sich, wie sehr wir Gemeinschaft brauchen
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Milena MoserSchriftstellerin

Theresa, mit der ich seit über 25 Jahren befreundet bin, wurde gleich nostalgisch. «Wie damals, Milena, erinnerst du dich?»

Ich nickte. Damals trafen wir uns jeden Sonntag zum gemeinsamen Abendessen, jedes Mal bei einer anderen Familie. Die Zusammensetzung wurde von unseren Kindern bestimmt, die miteinander befreundet waren und ohnehin die meisten Wochenenden gemeinsam verbrachten. Es war eine schöne Tradition und auch eine hilfreiche. Wir hielten uns gegenseitig auf dem Laufenden, schlichteten beginnende Streitigkeiten gleich hier am Tisch, unterstützten einander. Heute ist es eine andere Zusammensetzung, wir sind alle älter, kleine Kinder sind nicht mehr dabei. Das sollte es eigentlich einfacher machen, würde man denken.

Weit gefehlt.

Wir sind alle so langsam geworden, so kompliziert. Jim, der Älteste in der Gruppe, hat, ich habe es nachgezählt, 27 E-Mails verschickt, unsere Antworten nicht eingerechnet, bis der Plan für das nächste Essen endlich feststand. E-Mails, weil er ein Tastenhandy ohne Internetzugang benutzt. 27, weil er ein sehr umsichtiger und zuvorkommender Mann ist, der nicht einfach so entscheidet, ohne erst alle Meinungen eingeholt zu haben.

«Ein Gentleman», nannte ihn Victor nach dem ersten Treffen. «Im wörtlichen Sinn, ein gentle man, ein sanfter Mann.»

Theresa hat Jim beim Spazierengehen kennengelernt, sie kamen ins Gespräch, sie lud ihn zu einem Abendessen bei ihr zu Hause ein. Das macht sie öfters. Sie lebt allein und kocht an den Wochenenden regelmässig für ihren Freundeskreis, der sich ständig verschiebt und erweitert.

«Sie hat mich auf der Strasse aufgelesen», sagen die neuen Gäste dann. «Sie hat mich in der Schlange vor der Kasse angesprochen.» Meist sind es ältere Menschen, die Theresa spontan einlädt, manchmal auch jüngere, die noch nicht lange hier leben und noch keinen Anschluss gefunden haben. Oder die frisch getrennt oder geschieden sind. Sie hat ein untrügliches Gespür für drohende Einsamkeit und wirkt dieser entgegen, wo sie kann. Aus manchen dieser Zufallsbekanntschaften entstehen Freundschaften, manche lösen sich auch einfach wieder auf.

Jim stellte sich bei diesem ersten Essen als interessanter und engagierter Gesprächspartner heraus. Ein Mann, der viel erlebt hat. Noch ganz jung wurde er in den Vietnamkrieg eingezogen, eine Erfahrung, die ihn zutiefst erschütterte und nachhaltig prägte. «Der Krieg hat mich radikalisiert», sagt er. Friedenskämpfer, lebenslanger Aktivist, ehemaliger Professor für irgendetwas Technisches und frisch verwitwet. «Keine Kinder. Meine Frau litt ihr Leben lang unter einer bipolaren Störung», sagt er beiläufig, als würde er sagen: «Sie hatte braune Augen und rötliches Haar.» 

Er ist einer dieser Menschen, von denen ich mehr wissen, mit denen ich mehr Zeit verbringen möchte. Ausserdem, das spüren wir alle, brauchen wir die Gemeinschaft in diesen unsicheren und verunsichernden Zeiten mehr denn je. Mich persönlich tröstet es, mit jemandem zu reden, der schon mehr als eine schwierige Zeit überstanden und auch miterlebt hat, wie es wieder besser wurde. Der die Hoffnung nicht aufgibt.

Theresa sitzt neben mir, als ihr Handy eine neue Nachricht anzeigt. Sie wirft einen Blick auf den Bildschirm. «Jim», seufzt sie. «Warum muss er jedes Mal allen antworten?» Ich zucke mit den Schultern. «Lass ihn doch.» Denn heimlich geniesse ich diese endlos mäandernden Nachrichten, die höflichen und vorsichtigen Formulierungen. Sie sind so selten geworden wie ein echter gentle man.

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