Darum gehts
- Milena Mosers Mann Victor wurde von seiner Grossmutter gerettet und von vielen älteren Frauen unterstützt
- Verschiedene Grossmütter lehrten Victor wichtige Lebensweisheiten und Fähigkeiten
- Als Vierjähriger bekam Victor eine seltene Herzrhythmusstörung
«Grossmütter sind wichtig», sagt Victor immer wieder. Seine eigene Grossmutter hat ihm wohl das Leben gerettet. Von der eigenen Mutter abgelehnt und gequält, entwickelte er schon als Vierjähriger eine Herzrhythmusstörung. Diese bei Kindern sehr seltene Erkrankung und die vielen nicht erklärten blauen Flecken führten dazu, dass er zu seiner Grossmutter aufs Land geschickt wurde. Ich kenne die Geschichte – oder ich meinte, sie zu kennen.
Doch neulich setzte ich mich dazu, als Victor mit einer Freundin im Studio Tee trank und plauderte, während er gleichzeitig einen Gerüstteil für eine neue Skulptur weiss anstrich. Darum beneide ich ihn manchmal: um die Möglichkeit, neben der Arbeit noch etwas anderes zu tun. Das Schreiben ist eine vergleichsweise eifersüchtige Herrin. «Meine Grossmutter ...», begann er. Und ich hörte zu.
Geschichten, die ich kannte, aber nie miteinander verbunden hatte. Bis zu diesem Moment hatte ich tatsächlich nicht verstanden, dass er «Grossmutter» als eine Art Überbegriff braucht. Einen Schirm, unter dem all die älteren Frauen stehen, die in seiner Kindheit eine so wichtige Rolle spielten. Klar, manchmal war ich verwirrt, aber das bin ich bei seinen Geschichten oft. Vieles, das er erlebt hat, kommt mir fremd und magisch vor, fast wie ein Märchen.
«Moment, ich dachte, sie lebte auf dem Land?», fragte ich manchmal nach. «Moment, ich dachte, sie konnte nicht lesen?» Und jetzt endlich verstand ich: «Grossmutter» waren viele. Da war Loreto, seine «richtige», biologische Grossmutter, deren liebes Gesicht ich mit der Fingerspitze berühre, wenn ich an ihrem Foto vorbei die Treppe hinaufgehe. Sie hat Victor als Vierjährigen aufgenommen, ihn zu traditionellen Heilern gebracht, die seinen Herzschlag wenigstens vorübergehend beruhigen konnten.
Sie brachte ihm das Kochen bei und die Grundlagen seiner toltekischen Tradition. Vor allem aber liebte sie ihn heftig und unerschütterlich. Diese Liebe sehe ich heute noch in ihren Augen. Da waren aber auch Grosstanten und Patinnen, entfernte Verwandte, Freundinnen und Nachbarinnen. Da war Pacecita, die Marktfahrerin, die Victor Süssigkeiten zusteckte und ihn in ihrem Verkaufsstand versteckte, wenn seine Mutter Amok lief – denn immer wieder wurde er nach Hause geholt.
Da war Dorita, eine angeheiratete Grosstante aus «guter» Familie, die in Europa studiert hatte. Sie interessierte sich für Esoterik, legte den Damen der Gesellschaft die Karten und brachte Victor bei, sie zu deuten. «Keine dieser Frauen redete schlecht über meine Mutter. Sie sagten nur: Wir sind für dich da. Du bist hier zu Hause.»
Von Noritos, einer Nachbarin aus dem Dorf seiner Grossmutter, lernte Victor, die rostige Büroklammer im Strassenrand nicht nur zu sehen, sondern sie auch aufzuheben. Mit flinken Fingern bog sie sie zu einem Miniaturfahrrad, das sie dann später auf dem Markt verkaufte. Dann heiratete ihr Sohn «nach oben» und zog in ein grosses, ganz neues Haus in der Stadt. Seine Frau bestand darauf, dass Noritos mit ihnen umzog.
Doch die alte Frau war störrisch, sie weigerte sich, im Bett zu schlafen oder die unbequeme westliche Kleidung zu tragen. Und schon gar nicht würde sie ihr «primitives» Kunsthandwerk aufgeben. Und so kletterte sie am Markttag jeweils behände über das verschlossene schmiedeeiserne Tor, die Taschen ihrer traditionellen Schürze voller Miniaturspielzeug. Von ihr hat Victor vielleicht das Wichtigste gelernt: «Du kannst nur dich selbst sein.» Und auch das: «Du kannst nie genug Grossmütter haben!»