Darum gehts
- Milena Moser reflektiert über das Vergehen der Zeit
- Paradox: Beste Lebenszeit jetzt, trotz schwieriger Weltlage und globaler Krisen
- Durch ihren Partner, für den Gesundheit nicht selbstverständlich ist, begreift Moser das Privileg des Älterwerdens
Als Kind musste ich auf meinem Schulweg eine kurze Fussgängerunterführung durchqueren. Die Betonwände waren, wie sich das gehört, von oben bis unten versprayt, und auf der einen Seite stand, in riesigen Ziffern, die Zahl 2000. Die Jahreszahl 2000. Jedes Mal, wenn ich sie sah, überkam mich ein mulmiges Gefühl. Es schien unendlich weit weg, diese Zahl. Da wäre ich ja ... kurz nachrechnen: 37 Jahre alt!
Undenkbar. Ich konnte mir nicht vorstellen, eines Tages so uralt zu sein. Mit einem Bein im Grab sozusagen. Ich versuchte, mir die Welt in dieser mythischen Zukunft vorzustellen. Vielleicht wäre dann die Transportwolke bereits erfunden, die ich mir auf meinen langen und meist einsamen Wegen vorstellte: Die Wolke, die mich von der Schule abholte und sanft nach Hause schaukelte. Bequem wie ein Sofa sollte sie sein und hoch genug über der Strasse fliegen, dass die Jungs, die mir gern auflauerten, mich nicht erwischen konnten.
Aber doch tief genug, dass die Mädchen, die nicht wollten, dass ich mit ihnen mitging, neidisch wurden. Im Sommer würde ausserdem ein Glas Himbeersirup auf mich warten, komplett mit Eiswürfeln und Trinkhalm, im Winter eine heisse Schokolade. So stellte ich mir das vor. Unterdessen liegt das mythische Jahr 2000 auch schon wieder so lange zurück, dass ich mich kaum daran erinnere. Und ich bin jetzt so alt wie meine Mutter damals, als sie im Garten mit ihren Freundinnen Geburtstag feierte und bis tief in die Nacht redete und lachte.
Ich wohnte damals nebenan, ich weiss noch, wie ich beim Fensterschliessen dachte: «Ist doch schön, dass sie noch Spass hat in ihrem Alter!» In ihrem Alter, das jetzt mein Alter ist. Hätte ich damals als Kind gewusst, dass meine beste Zeit noch kommen wird. Dass sie so spät kommen wird.
Denn das ist das Paradox meines Lebens jetzt gerade: Einerseits ist das die beste Zeit bisher. Nicht nur, weil ich die grosse Liebe gefunden, ein Enkelkind bekommen habe, sondern vor allem, weil ich immer mehr mit mir im Reinen bin. Mich immer wohler fühle in meiner Haut, immer weniger darüber nachdenke, was «die anderen» wohl von mir halten. Die körperlichen Anzeichen des Älterwerdens, also Falten und so weiter, plagen mich sehr viel weniger, als ich das vor zwanzig oder dreissig Jahren noch befürchtet hätte.
Ich mag mich heute besser als damals, und auch das hätte ich nicht ahnen können. Wie gut sich das anfühlt. Das hat bestimmt damit zu tun, dass ich mit einem Mann zusammenlebe, dessen Gesundheit nicht selbstverständlich ist. Das Bewusstsein, dass das Älterwerden, das Altwerden ein Privileg ist, ist vielleicht das grösste Geschenk, das er mir gemacht hat.
Wenn man mir vorhergesagt hätte, wie sehr ich das Älterwerden geniessen würde, hätte ich es vermutlich nicht geglaubt. Denn das ist ja irgendwie nicht vorgesehen in unserem Denken, in unserem Weltbild. Aber ich weiss auch, dass ich da bei weitem nicht die Einzige bin, die das so empfindet. Und andererseits ist diese Zeit jetzt gerade, die ich in meiner kleinen privaten Seifenblase so geniesse, eine ganz fürchterliche.
Angst und Schrecken herrschen in weiten Teilen der Welt, eine Grausamkeit und Menschenverachtung, die ich meinte, in Geschichtsbücher verbannt zu wissen. Das ist eine Realität, auf die ich nicht vorbereitet bin, für die ich keine Werkzeuge bereit habe. Ich finde es schwierig, diesen Gegensatz auszuhalten. Mich nicht im Privaten zu verstecken, aber mich im Weltgeschehen auch nicht ganz aufzureiben. Aber auch das habe ich gelernt: Ich hab nie ausgelernt.