Schulfreie Wochen
Der Sommer der Überforderung

Ein Gespräch zwischen zwei Müttern, das ich zufällig im Supermarkt mit anhörte, wirkte wie eine Zeitmaschine auf mich: Auf einen Schlag hatte mich die damalige Überforderung durch diese endlosen schulfreien Wochen wieder eingeholt.
Publiziert: 10:05 Uhr
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Sie ist wieder da: Die lange Schulferienzeit im Sommer – während der die meisten Eltern grösstenteils arbeiten müssen.
Foto: Pixabay/nhicnttcantho

Darum gehts

  • Mütter an der Kasse unterhalten sich über Herausforderungen der dreimonatigen Schulsommerferien
  • «Kid rotting» als neuer Erziehungstrend
  • Viele Eltern in den USA haben nur eine Woche bezahlte Ferien pro Jahr
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Milena MoserSchriftstellerin

Ich hatte die beiden Frauen vorgelassen, obwohl sie einen übervollen Einkaufswagen vor sich herschoben und ich nur ein paar zuvor vergessene Dinge in meinem Korb liegen hatte. Aber erstens hatte ich es nicht eilig, und zweitens wollte ich ihnen noch ein bisschen länger zuhören. Die Gesprächsfetzen, die ich aufschnappte, wirkten auf mich wie eine Zeitmaschine. Katapultierten mich direkt zurück in eine Zeit, in welcher der Beginn der Sommerferien, der von den Kindern so sehnsüchtig erwartet wurde, in mir nur leises Grauen auslöste. Oder auch lautes.

Das schien den beiden Frauen in der Schlange vor der Kasse nicht anders zu gehen. «Meinst du, das ist genug Popcorn?» – «Ich hab auch noch Chips zu Hause.» Sofort spürte ich wieder die fast revolutionäre Erkenntnis, als ich vor 25 Jahren bei der ersten Schulfeier meines Kindes hier feststellte, dass es okay war, gekaufte Snacks zum Gemeinschaftspicknick beizutragen. Mir sass noch die Rüge dafür in den Knochen, dass ich Fertigteig für meine immerhin selbst gebackene Wähe verwendet hatte. Doch diesen Frauen schien die Zeitersparnis durch das Popcornkaufen keine grosse Erleichterung zu verschaffen.

«Brückenzeremonie – hast du so was schon mal gehört?» Nein, hatte ich nicht. Ich trat einen Schritt vor, um besser zu hören. Eine Brückenzeremonie war offenbar ein Ritual zum Übertritt in die «richtige», die «grosse» Pfadi. Dazu musste eine Brücke von der Zentralstelle geliefert und in einem Garten aufgestellt werden, genauer gesagt, im Garten einer dieser beiden Frauen. Die Kinder der anderen waren nicht in der Pfadi, «Gott sei Dank», murmelte sie. Aber sie versprach, ihrer Freundin beizustehen.

Auch daran erinnerte ich mich, vielleicht mehr als an alles andere: an die Solidarität und Unterstützung der anderen Mütter. Wir hielten uns gegenseitig über Wasser. Manche dieser Freundschaften halten bis heute. Die beiden Frauen diskutierten nun die sogenannten Summer Camps, organisierte Aktivitäten, mit denen die drei schulfreien Monate gefüllt werden müssen. Die meisten Eltern hier haben nur eine Woche bezahlte Ferien pro Jahr. «Hast du diesen Artikel über das Kindervermodern gelesen?» – «Hä? Nein.»

Jetzt hätte ich mich beinahe eingemischt: Ich schon! «Kid rotting» heisst der «neue» Trend, der Kindern unstrukturierte, unverplante Freizeit erlaubt. «Zu meiner Zeit sind wir alle ‹vermodert›», wollte ich sagen. Aber da waren die Frauen schon an der Kasse angelangt. Sie bezahlten und stürmten aus dem Laden, als sei der verrückte Hutmacher mit der Uhr hinter ihnen her. Ich fühlte mich uralt und gleichzeitig unglaublich leicht. Das alles lag hinter mir! Ich musste nicht länger drei verschiedene Stundenpläne, Freizeitaktivitäten, Wünsche, Ansprüche und Bedürfnisse gleichzeitig jonglieren. Vermutlich könnte ich es nicht einmal mehr.

Ein paar Tage später sagte eine Kursteilnehmerin zu mir: «Du hast leicht reden. Du musst ja nichts mehr ausser schreiben.» Ich unterdrückte den Impuls, mich zu verteidigen. Anzuführen, wie unberechenbar das Leben an der Seite eines immer wieder schwer kranken, zwischendurch aber vor Tatendrang platzenden Künstlers sein kann. Aufzulisten, was ich alles erledige. Doch warum sollte, warum wollte ich mich verteidigen?

Ist es etwa eine Tugend, ständig überfordert zu sein? Ist das Leben ein Wettbewerb und Überforderung eine olympische Disziplin? Sie hatte ja vollkommen recht: Mein Leben ist vergleichsweise geruhsam geworden. Und halbwegs selbstbestimmt. Der Sommer liegt endlos vor mir, unstrukturiert, unverplant. Ich darf ungestört vermodern. Wie ein Kind, ein glückliches Kind.

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