Milena Moser über eine Insektenplage
Lernfähig

Manchmal frage ich mich, ob ich wirklich so viel gelernt habe in meinem Leben, wie ich mir in übermütigen Momenten einbilde. Doch letzte Woche konnte ich meine Lernfähigkeit überprüfen – auf dem Dach meines Schreibhäuschens.
Publiziert: 10:12 Uhr
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In ihrem kleinen blauen Schreibhäuschen von gerade mal sechs Quadratmetern Fläche stellt Milena Moser eines Tages eine Insekteninvasion fest.
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Darum gehts

  • Moser räumt Schreibhäuschen aus und bekämpft Insektenplage
  • Hilfe annehmen kann schwieriger sein, als ein Dach zu teeren
  • Zehn Einkaufstüten mit Büchern hat sie aus dem sechs Quadratmeter kleinen Häuschen entfernt
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Milena MoserSchriftstellerin

Mein Schreibhäuschen ist klein, keine sechs Quadratmeter gross. Trotzdem brauchte ich fast den ganzen Morgen, um es auszuräumen. Ich zerrte den Schreibtisch in den Garten hinaus und füllte zehn Einkaufstüten mit Büchern. Zehn! Grund für diese Aktion war eine plötzliche und massive Insekteninvasion. Gefühlte Hunderte von kleinen Spinnen und Ameisen hatten den Raum innert weniger Tage komplett in Beschlag genommen. Und da sie sich nicht gegenseitig beseitigten, musste ich etwas unternehmen.

Es blieb mir nichts anderes übrig, als das Häuschen komplett auszuräumen und von oben bis unten zu schrubben. Erst, als ich so davorstand, fielen mir auch die Äste auf, die das Dach überwucherten und den oberen Teil des Fensters verdeckten. Vielleicht bildeten sie ja den Insekteneingang? «Ich brauch die Leiter», sagte ich zu Victor. Als wir uns noch nicht lange kannten, landete er mit einer Hirnblutung im Spital. Tagelang war er verwirrt. Auf die Frage nach seinem Namen antwortete er konsequent mit «Dienstag».

Ob er wisse, wer ich sei, fragte die Ärztin schliesslich, und er strahlte: «Sie ist top of the ladder, ganz oben auf der Leiter.» Kurz zuvor hatte ich ihm bei einer Installation geholfen und ihn mit meiner Schwindelfreiheit beeindruckt. Furchtlos war ich die vier Meter hohe Industrieleiter bis unters Dach der Galerie hochgeklettert. Seither nennt er mich manchmal so: Top of the ladder. Er traut mir alles zu.

Ich schleppte also die Leiter hinter mein Häuschen und kletterte hinauf. Da sah ich erst die dicke Schicht trockener Äste und Blätter, die das Metalldach bedeckten. Ein wahres Insektenparadies. Ich seufzte. «Das kannst du», redete ich mir zu. Jahre zuvor, als ich noch in Santa Fe lebte, musste das Flachdach meiner Casita dort neu geteert werden. Ich konnte mir zu der Zeit keine professionelle Hilfe leisten, doch mein Nachbar, der Galeriebesitzer, machte mir Mut. «Das kannst du selbst», sagte er. «Du bist doch aus der Schweiz, nicht?»

Stellte sich heraus, er war mit einem Schweizer Kindermädchen aufgewachsen. «Ich weiss, was Schweizer Frauen können. Das schaffst du.» Ich schaute mir ein paar Youtubevideos an, kaufte einen Kübel Teer und stieg hinauf. Das Resultat war etwas unregelmässig, und ich brauchte Tage, um Teerreste von meiner Haut zu entfernen, aber ich war so stolz wie selten zuvor. Dass ich das geschafft hatte. In meinem Alter. Ganz allein.

Jetzt aber, jetzt strich ich mir irgendwann die verschwitzten Haare aus der Stirn und seufzte. Das war mehr Arbeit, als ich erwartet hatte. «Brauchst du Hilfe?» Ich schaute nach unten. Da stand Victor. Nein, wollte ich sagen, ganz automatisch, nein, nein, nicht nötig, das schaff ich schon. Doch dann tauchte plötzlich ein neuer Gedanke auf: Nur weil ich etwas alleine schaffen würde, heisst das nicht zwingend, dass ich es auch muss. Stellt sich heraus, Hilfe anzunehmen, ist schwieriger, als ein Dach zu teeren. Ich schluckte ein paarmal leer. Doch dann nickte ich und kletterte vom Dach herunter.

«Danke, das wär lieb.» Victor stieg auf die Leiter, ich trug die Putzmittel hinein, und so arbeiteten wir den Rest des Morgens. Die Katzen spielten mit den abgeschnittenen Ästen, Victors Handy spielte obskure elektronische Musik aus den 70er-Jahren. Und als wir fertig waren, fühlte sich alles so viel leichter und heller an. Im Häuschen und in mir drin.

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