Darum gehts
- Milena Mosers Freundin hadert nach Operation mit Ungewissheit über Ursache und Prävention
- Victor findet kreative Lösungen für gesundheitliche Herausforderungen
- Nathalie lernt Ukulele zwei Wochen nach Gespräch über Bewältigung
Bei einem Mittagessen mit Freunden sehe ich sie zum ersten Mal seit ihrer Operation. Sie wirkt entspannt und ausgeruht. «Du siehst gut aus», sage ich.
«Das täuscht.» Sie tippt sich an die Stirn. «Hier oben hapert es noch.» Ich verstehe nicht gleich. Ist sie verlangsamt, kann sie nicht mehr so scharf denken, wie sie es gewohnt ist? Nein, sie meint die Seele. Die wohnt bei ihr im Kopf.
«Ich weiss einfach nicht, warum das passiert ist. Und was ich tun kann, damit es nicht wieder passiert.» Sie seufzt. «Wenn ich wenigstens rauchen würde! Dann könnte ich das aufgeben ...» Aber sie raucht nicht, sie hat kein Übergewicht, keinen hohen Blutdruck und keine familiäre Vorbelastung. «Es bringt nichts, darüber nachzudenken», meinte ihr Chirurg, nachdem er zugegeben hatte, dass er in letzter Zeit zwar vermehrt jüngere Patienten operiert hat, aber noch nie eine junge Frau wie sie.
Nathalie hat Mathematik studiert, sie arbeitet im Statistikamt. Mit diesem Nichtwissen kann sie sich nicht abfinden. Und das verstehe ich, obwohl ich nicht den Bruchteil ihrer Intelligenz und Rationalität besitze. Das Nichtwissen kann ich auch kaum aushalten. Und bin ihm doch ständig ausgeliefert. Nicht wissen, wie lange es diesmal bis zu Victors nächstem Besuch in der Notaufnahme dauert. Nicht wissen, wie es weitergeht. Victor selbst sind diese Gedanken fremd. Er rückt seinen Stuhl zwischen uns, schenkt uns beiden nach. Weisswein mir, Mineralwasser Nathalie. «Warum ich? Das frag ich mich nie. Warum nicht ich?» Nathalie verdreht die Augen.
Ich erinnere mich an den Tag vor ein paar Jahren, an dem Victor mit einer einseitigen Gesichtslähmung aufwachte. Es war ein Sonntag, natürlich ein Sonntag, wenn die Notaufnahme ohnehin überfüllt ist. Schnell wurde ein Schlaganfall ausgeschlossen, dann wurden wir zurück in den Warteraum geschickt, wo wir die nächsten sechs oder sieben Stunden verbrachten. Der Sonntag ging vorüber, ich stand zwischendurch auf, um einen Beutel Chips aus dem Automaten zu lösen, eine Flasche Wasser. In mir machte sich eine Düsternis breit, eine Verzweiflung: Warum muss das passieren, dachte ich. Warum ausgerechnet Victor, der damals gerade einen seltenen Krebs im Auge überstanden hatte, eine schmerzhafte Chemotherapie, die sein Auge auf Golfballgrösse anschwellen liess.
Der Arzt, der ihn schliesslich untersuchte, sagte, diese Art von Gesichtslähmung träte ohne erkennbaren Grund auf. Manchmal verschwinde sie nach ein paar Monaten wieder, manchmal auch nicht. Da musste ich mich kurz entschuldigen. Ich schloss mich auf der Toilette ein und brach in Tränen aus. Warum Victor, warum ausgerechnet jetzt, haderte ich. Wo Victor sich gerade langsam erholte, sich auf ein Konzert in der Symphonie freute, wo er seine präkolumbianischen Flöten spielen würde. Wie konnte er mit dieser hängenden Unterlippe Flöte spielen? Ich trat gegen den metallenen Papierkorb, was auch nichts änderte. Als ich in den Untersuchungsraum zurückkam, hatte Victor bereits eine Lösung gefunden: «Ich spiele doch einfach die Trommeln.»
«Schöne Geschichte, aber was nützt mir das?», fragt Nathalie jetzt. «Ich spiele ja nicht mal ein Instrument.» «Vielleicht ist das die Antwort, vielleicht musst du ein Instrument lernen», sagt Victor, und sie schaut ihn an, als wolle sie ihn erwürgen. Zwei Wochen später aber schickt sie ihm ein Bild: Wie sie auf ihrem Balkon sitzt, eine Ukulele im Arm, und hinter ihr geht die Sonne unter.