Milena Moser über Zugehörigkeit und Vorurteile
Wer war zuerst hier?

Ich lebe nicht auf dem Kontinent, auf dem ich geboren wurde. Victor schon. Und doch wird er viel eher, viel deutlicher als fremd wahrgenommen als ich. Von Gerechtigkeit redet schon lange niemand mehr.
Publiziert: 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 07:51 Uhr
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Milena Moser erzählt in ihrer Kolumne eine Geschichte über Identität in den USA.
Foto: AP

Darum gehts

  • Milena Moser wird für ihre Herkunft geschätzt
  • Victor erlebt Ausgrenzung trotz tieferer Verwurzelung
  • Eine Dinnerparty entlarvt Vorurteile über Zugehörigkeit
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Milena MoserSchriftstellerin

Mein jüngerer Sohn neckt mich manchmal: «Bei uns würde man sagen, du seist schlecht assimiliert.» Weil ich den 1. August feiere, Schweizer Gerichte nachkoche, Aromat und Schokolade einführe, weil ich Schweizer Freundinnen habe, mit denen ich mich endlos und auf Schweizerdeutsch über die Unterschiede zwischen hier und dort auslassen kann. Ausser meinem Sohn hat das noch nie jemand hier auch nur im Geringsten hinterfragt. Logisch, ich komme aus der Schweiz, aus einem Land, mit dem gemeinhin nur Gutes assoziiert wird. Switzerland, how beautiful! Und das ist es ja auch. Selbst, dass ich nach all den Jahren hier immer noch mit starkem Akzent spreche, hat mir noch nie jemand vorgeworfen, im Gegenteil, die meisten finden das cool.

Victor hingegen, der nicht nur auf diesem Kontinent geboren wurde, sondern dessen Familie «seit immer» hier verwurzelt ist, erlebt das anders. Auch im längst nicht mehr so liberalen San Francisco kommt es seit dem Machtwechsel wieder häufiger vor, dass er angepöbelt wird. Wenn er automatisch Holà sagt statt Hello: «Sprich gefälligst Englisch, wir sind hier in Amerika!»

Neulich, als er im Truck unterwegs war, wurde ihm von einer dieser überdimensionierten Geländelimousinen der Weg abgeschnitten, das Gefährt hielt an, der Fahrer streckte den Arm aus dem Fenster, die Hand zur Faust geballt und brüllte den Namen des herrschenden Präsidenten, bevor er weiterfuhr.

Bedeutet Assimilierung nicht, sich denen anzupassen, die vor einem da waren? Das erinnert mich wieder an eine etwas mühsame Dinnerparty vor Jahren. Der zunehmend angetrunkene Gastgeber trug immer dicker auf. «So einen teuren Wein hast du noch nie getrunken!», rügte er mich, als ich die flache Hand über mein Glas hielt, um weiteres Nachschenken zu verhindern. «Du weisst nicht, was dir entgeht!» Wohlgemerkt, er betonte nicht die Qualität des Weines, sondern seinen Preis: «Über tausend Dollar die Flasche!»

So einen teuren Wein hatte ich in der Tat noch nie getrunken. Mein Leben geht trotzdem weiter. Dann schoss sich der Mann auf Victor ein. «Victor ist vermutlich der Einzige in diesem Raum, dessen Familie schon länger hier ist als meine», sagte er grossspurig. Ich verstand nicht gleich, worauf er anspielte. Doch dann kam er mit der Mayflower, dem berühmt-berüchtigten Segelschiff, das die ersten Pioniere, Religionsflüchtlinge eigentlich, nach Amerika brachte. Nicht mit diesem Schiff, sondern mit dem übernächsten, weniger berühmten, der Anne, war offenbar ein Vorfahre unseres Gastgebers Anfang des 17. Jahrhunderts in Amerika gelandet, und darauf war er noch stolzer als auf seine Weinkaufkraft. Dieser uralte, urmenschliche Triumph: Ich war zuerst da!

Oder eben nicht. Da waren ja schon andere. Andere wie Victor. Etwas verunsichert wandten sich die geladenen Gäste nun Victor zu, registrierten seine langen, immer noch schwarzen Haare, die seine indigene Herkunft verrieten, aber auch seinen Akzent, also musste er doch Ausländer sein? Oder wie, oder was?

Ich sah, wie Victors Gesicht versteinerte. Er erlebte das nicht zum ersten Mal. «Natürlich», erklärte der Gastgeber. «Natürlich lebte seine Familie südlich der Grenze!» Erleichtertes Lachen in der Runde, ach so, natürlich, alles klar! Die Ordnung war wieder hergestellt, die Puzzleteile des Verständnisses fügten sich zueinander. Doch Victor hatte genug. Er stellte sein Glas hin. «Von welcher Grenze sprichst du genau?» Darauf wusste niemand etwas zu sagen. Darauf weiss auch heute niemand etwas zu sagen.

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