Darum gehts
- Milena Moser reflektiert über ihre Auswanderung und das neue Leben in Amerika
- Unerwartete Herausforderungen und Freuden prägen ihre Erfahrungen im Ausland
- Nach drei Tagen in San Francisco musste Victor operiert werden
Ich weiss noch, dass ich im Flugzeug sass und weinte. Meine Freundinnen hatten einen Flugbegleiter überredet, mir nach Abflug ein Brieflein zu überreichen, und die Rührung traf mich wie ein Wellenbrecher. Und auch das Bewusstsein, was ich alles zurücklasse.
Gerade in den hektischen letzten Wochen vor meiner Abreise hatte ich so viel Unterstützung erfahren, zupackende, wortlose, emotionale und kalorienreiche, dass ich mich manchmal fragte, ob ich mit meiner Entscheidung nicht das Schicksal versuchte.
Ungefähr in der Hälfte des langen Fluges merkte ich, dass ich meine geliebte alte Lederjacke am Gate zurückgelassen hatte. Das schien mir irgendwie passend: eine Häutung. Und dann begann die Vorfreude wieder in mir aufzusteigen, die kribbelnde Aufregung, die Abenteuerlust. Es wartete ja auch so viel auf mich: der endlos weite Himmel, ungestörte Zeit zum Schreiben, Pferde, Menschen und – nicht zu vergessen – die grosse Liebe.
Die lebenslange Sehnsucht nach einem Zuhause gehört genauso zu mir wie meine unbändige Lust, aufzustehen, weiterzuziehen, zu schauen, wie es dort aussieht, hinter dieser Kurve, auf der anderen Seite dieses Hügels.
«Du bist nun mal eine Nomadin», hatte eine Freundin schon vor Jahren diagnostiziert. «Du trägst dein Zuhause mit dir mit, zusammengerollte Leinwände und Zeltstangen hinter deinem Sattel.»
Aber bin ich wirklich gegangen? Mir kam es nie so vor, als hätte ich mein altes Leben aufgegeben und ein neues begonnen. Eher so, als hätte ich einfach ein weiteres Fenster aufgestossen in diesem einen Leben, meinem weitläufigen, unordentlichen, unberechenbaren Leben.
«Du bist so mutig», hörte ich damals auch oft. Das wies ich immer von mir: «Ich bin nicht mutig, ich überleg mir einfach nicht so viel!»
Drei Tage nach meiner Ankunft in San Francisco musste Victor operiert werden. Das war der Anfang, und so ging es weiter: Anders, als ich es mir vorgestellt hatte.
Manchmal war das schwierig. Als ich meine geliebte Casita aufgeben musste, zum Beispiel. Jedes Mal, wenn ich Victor in die Notaufnahme bringen und dann hilflos zuschauen musste, wie er litt. Und nichts tun konnte. Von der politischen Entwicklung gar nicht zu reden.
Manchmal fragte ich mich dann, ob ich nicht doch besser mal nachgedacht, mehr «studiert» hätte, wie wir in der Schweiz sagen. Aber wie? Wie hätte ich das alles vorhersehen können?
«Hättest du dich anders entschieden, wenn du das gewusst hättest?» Darauf weiss ich keine Antwort. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, die Zukunft vorauszusehen und recht zu behalten. Ich glaube nicht einmal, dass ich diese Gabe besitzen möchte.
So vieles ist in den letzten Jahren passiert, das mein Vorstellungsvermögen übersteigt. Aber eben auch im Guten. Vor allem im Guten. So scheint sich die ständige Bedrohung durch Victors Gesundheit, die wie eine schwarze Wolke über uns schwebte, vorerst verzogen zu haben.
«Sie haben das Herz eines Teenagers», konstatierte neulich der Kardiologe nach der letzten Untersuchung etwas konsterniert. «Wir können uns das nicht erklären.» Ich auch nicht, aber ich kann es bestätigen: In Victor schlägt ein junges Herz, voller Liebe und Hoffnung und Übermut. Auch darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Wie übermütig und kindisch, wie unbeschwert so eine Altersliebe sein kann. Dass ich so viel lachen würde. Mein Leben ist so viel reicher, üppiger, chaotischer und voller, als ich mir das je hätte vorstellen können. Das Leben ist mehr.