Milena Moser über ihren persönlichen «Muezzin»
Der Strassensänger

Seit einigen Wochen höre ich jeden Morgen eine Stimme in der Strasse. Sie singt, sie klagt, vielleicht ruft sie auch zum Gebet. So klingt sie jedenfalls für mich und stimmt mich auf den beginnenden Tag ein.
Publiziert: 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 18.07.2025 um 20:43 Uhr
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Milena Moser und ihr Partner scheinen in unterschiedlichen Zeitzonen zu leben: Wenn Victor sich frühmorgens langsam ins Bett begibt, steht Moser bereits wieder auf.
Foto: Barak Shrama Photography

Darum gehts

  • Milena Moser und ihr Partner Victor haben ganz unterschiedliche Tages- und Nachtrhythmen
  • Frühe Morgenstunden bieten magische Stille und Zeit für sich selbst
  • Seit einiger Zeit hört Moser morgens einen monotonen Gesang wie der eines Muezzins
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Milena MoserSchriftstellerin

Victor und ich, wir leben sozusagen in unterschiedlichen Zeitzonen. Er arbeitet gern die Nächte durch und legt sich erst schlafen, wenn ich schon fast wieder aufstehe. Er erlebt eine ganz andere Strassenstimmung als ich, hört ganz andere Dinge.

Laute Gespräche, manchmal Auseinandersetzungen, wenn die Restaurants im Quartier schliessen und die letzten Gäste auf ihre Fahrdienste warten. Das Jaulen der Alarmanlagen, wenn Jugendliche versuchen, die Türen aufzubrechen. Ab und zu auch heftig Verliebte, die unseren geräumigen und geschützten Eingangsbereich nutzen, um sich, wie soll ich sagen, näher kennenzulernen. Dann lässt er es sich nicht nehmen, überraschend die Tür von innen aufzureissen und «Habt ihr alles, was ihr braucht?» zu rufen.

Manchmal erzählt Victor mir bei unserer ersten gemeinsamen Mahlzeit – meinem Mittagessen, seinem Frühstück –, was in der Nacht alles los war. Dann habe ich immer das Gefühl, ganze Abenteuerfilme verpennt zu haben, oder vielleicht auch einen klassischen Film noir.

Am frühen Morgen liebe ich allerdings gerade das: dass es so still ist. Das ist mir neu. Als junge Frau erlebte ich das nur, wenn ich in den frühen Morgenstunden von einer Party nach Hause kam, allein, das Make-up verschmiert, die Schuhe in der Hand und ziemlich sicher eine Zigarette im Mundwinkel. Wie frei fühlte ich mich dann, wie verwegen! Dann bekam ich Kinder.

Andere Mütter erzählten mir, dass sie absichtlich eine Stunde vor allen anderen aufstanden, um die frühen Morgenstunden ungestört zu geniessen, die Zeit, wenn noch niemand etwas von einem will. Das hab ich damals nie geschafft. Erst jetzt wache ich von allein so früh auf und entdecke eine ganz neue Welt. Wenn alles noch möglich scheint. Die Weichen des Tages sind noch nicht gestellt. Und in dieser magischen Stunde höre ich seit ein paar Wochen diesen monotonen Gesang. Er erinnert mich an Aufenthalte in Ägypten vor vielen Jahren, als ich morgens jeweils durch den Gesang des Muezzins geweckt wurde.

Obwohl ich nicht zu den Gläubigen gehöre, berührten mich die langgezogenen, klagenden und gleichzeitig aufmunternden Klänge zutiefst. So fremd sie mir auch waren, rührten sie an etwas Bekanntes. Etwas Universelles, Urmenschliches vielleicht. Das Bedürfnis, zusammenzukommen und anzuerkennen, dass es etwas Grösseres gibt als uns? Der Sänger auf der Strasse ist allerdings ziemlich sicher kein Heiliger, sondern einer unserer unbehausten Nachbarn, von denen es in der Stadt immer noch viel zu viele gibt. Aber was weiss ich schon?

Einmal trete ich ans Fenster und schaue hinaus. Es ist noch nicht ganz hell draussen, deshalb kann ich nur einen dunklen Schattenumriss erkennen. Es sieht aus, als trage er einen Umhang, eine Decke vielleicht. Halb erwarte ich, eine Schafherde hinter ihm herziehen zu sehen, eine Gruppe frommer Pilger oder kleiner Kinder, wie im Märchen. Aber da ist nur er, einsam und zielgerichtet geht er die Strasse hinauf. Er singt in einer Sprache, die ich nicht verstehe, über Dinge, die ich mit dem Verstand nicht begreife. Und doch geht mir seine Stimme direkt in die Seele und trifft dort auf etwas, das sie erkennt. Es ist, als ob er mir den Tag ausrichte.

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