Milena Moser über kleine Zen-Lehrer
Kindersegen

Letzte Woche habe ich erzählt, welche Bedeutung ältere Menschen, auch nicht wirklich Verwandte, im Leben eines Kindes einnehmen können. Das gilt selbstverständlich umgekehrt erst recht.
Publiziert: 09:00 Uhr
|
Aktualisiert: 06:00 Uhr
Teilen
Anhören
Kommentieren
1/5
In letzter Zeit liegt Milena Moser nachts lange wach und grübelt über Zukunftsszenarien. (Symbolbild)
Foto: Getty Images

Darum gehts

  • Milena Moser erlebt besondere Momente mit dem kleinen Jungen ihrer Gastfamilie.
  • Das Zusammensein mit Kindern kann aufmuntern und düstere Gedanken vertreiben.
  • Kinder fordern absolute Präsenz ein und leben im Moment – sie sind kleine Zen-Meister.
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
Selfie 2.jpg
Milena MoserSchriftstellerin

«Wie alt bist du?» – «Ich bin 62.» – «Oh. Ich auch.» Kurze, nachdenkliche Pause, dann die Frage: «Brauchst du zum Laufen einen Rollstuhl?» Das Lachen explodiert in mir, meine Laune ist sofort um ein Tausendfaches gestiegen. Solche Unterhaltungen führe ich im Moment ständig, nicht mit meinem Enkel, der noch nicht so viele Worte aneinanderreihen kann, sondern mit dem kleinen Jungen, bei dessen Familie ich gerade wohne.

Und ich kann kaum in Worte fassen, wie viel mir diese Momente bedeuten. Denn es ist so: Meine Stimmung ist in letzter Zeit oft verdüstert. Ich liege nachts wach, nicht wegen Jetlag, sondern weil ich mir Sorgen mache. Weil sich in meinem Kopf ein endloses Was-passiert-wenn-und-was-machen-wir-dann-Karussell dreht. Über die Gründe will ich mich gar nicht auslassen, sie sind wohl klar. Und natürlich weiss ich, dass das alles nicht hilft, dass ich mich geradezu in einen Sorgenstrudel hineinschraube. Ich weiss, dass es besser wäre, im Moment zu leben.

Zu akzeptieren, dass es Dinge gibt, die sich meiner Kontrolle entziehen. Im Gegenteil, das meiste im Leben hält sich nicht an meine Vorstellungen. Das nächtliche Wachliegen und Durchspielen möglicher Szenarien hat abgesehen davon noch nie ein Problem gelöst. Ja, ich weiss das alles, ich bin ja nicht erst seit gestern auf der Welt. Aber meine üblichen Strategien lassen mich alle im Stich. Das Einzige, was mir sofortige Erleichterung verschafft und mich zuverlässig aus meinen Verstimmungen reisst, ist das Zusammensein mit kleinen Kindern.

Wie kleine Zen-Lehrer fordern sie absolute Präsenz, spüren jedes innere Entfernen und protestieren sofort und lautstark dagegen. Sie stellen sich jedem neuen Tag wie einem Abenteuer – voller Neugier und Zuversicht. Und obwohl ihre Stunden durchaus auch von Misserfolgen und Hindernissen durchzogen sind – der Gummistiefel passt nicht an den Fuss, die Schaukel auf dem Spielplatz ist besetzt, das Essen lässt auf sich warten und ist dann zu heiss –, haben sie einen sehr viel besseren Umgang mit Frustration als ich.

Sie machen ihren Gefühlen Luft, sie lassen sie raus, und da sind sie dann auch: ausserhalb von ihnen. Wo man sie auch wieder vergessen kann. Die Tränen werden zusammen mit den verschütteten Reiskörnern aufgewischt und weggeworfen, das Spiel geht weiter. Vor meiner Abreise habe ich mit einer Freundin darüber gesprochen, wie schwer es uns fällt, das Handy wegzulegen. Das geplagte Hirn nicht ununterbrochen mit neuen schlechten Nachrichten zu versorgen. Wir wissen beide, dass wir mit diesem Verhalten nichts bewirken – ausser unsere eigene geistige Gesundheit zu gefährden.

Wir entwickeln Strategien, das Handy über Nacht in einem anderen Zimmer zu lassen, den Ton auszuschalten, und so weiter. Doch nichts greift wirklich. Bis ein kleines Kind kommt und in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet, «spielen!» fordert. «Büechli anschauen!» Victor sagt, er erlebe dasselbe mit seinen Katzen, die sich vor ihm auf den Boden werfen und laut schnurrend ihre Streicheleinheiten einfordern. Das kann ich nicht beurteilen, da die beiden mich auch nach sieben Jahren noch konsequent ignorieren.

Aber ich glaube es ihm sofort. «Oma!», sagt mein Enkel, und er zeigt auf mich und dann auf die Wand, an der die Familienfotos hängen, auf das Foto seiner «anderen Oma», die er besser kennt und öfter sieht. Zum ersten Mal begreift er, dass uns beide etwas verbindet, dass wir auf dieselbe Art zu ihm gehören. Die Rührung überschwemmt mich wie eine Welle und spült alle düsteren Gedanken weg. «Oma», sage ich und nicke. Das ist genug.

Teilen
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?