Darum gehts
Cham, ein unscheinbarer Morgen. Vor einer Physiopraxis steht ein Mann, gross, kräftig, freundlich. Es ist der vierfache Eidgenosse Pirmin Reichmuth (29) – einer der prägendsten Schwinger der letzten Jahre. Wer ihn heute trifft, spürt sofort: Der Druck, die Nervosität, die Kämpfe im Sägemehl – sie sind Geschichte. Völlig befreit, begrüsst er die Kunden in seiner Praxis.
Reichmuth ist angekommen in einem neuen Alltag. Es fiel ihm nicht schwer: «Nach dem ESAF habe ich mich am meisten darüber gefreut, dass jetzt dieser Druck weg ist», sagt er. «Keine Vorbereitung mehr und vor allem keine Gedanken mehr, dass du am Wochenende abliefern musst.» Er lacht, aber man merkt, es war ernst. Die Zweifel hatten ihn in seinem letzten Schwing-Sommer eingeholt: «Schon eine Woche vor meinem ersten Fest der Saison habe ich zu meiner Frau gesagt: Warum mache ich das eigentlich noch?»
4. eidgenössischer Kranz trotz gerissenem Meniskus
Auch wenn sich Reichmuth zwischenzeitlich vorstellen konnte, schon vor dem Saisonhighlight die Zwilchhosen an den Nagel zu hängen, biss er durch.
Und so kam es, dass er sich in Mollis nach dem vierten Gang gegen Curdin Orlik einmal mehr an sein Knie griff. Ein Schock: Für Reichmuth war klar, dass es gelaufen ist. Mit Schmerztabletten und meterweise Tape startete der Hühne dann doch noch in den ESAF-Sonntag und holte sich am Ende sogar noch den Kranz.
Im SRF-Interview, als er seinen Rücktritt bekannt gab, stellte er am Tag danach klar: «Das habe ich für meine Tochter gemacht. Ich kann ihr ja nicht sagen, sie soll die Zähne zusammenbeissen, wenn ich es nicht mache.» Dass er dies mit einem gerissenen Meniskus tat, sagte er bis dato noch nie öffentlich: «Ich war nie einer, der gejammert hat.»
Karrierehöhepunkt war Sieg gegen Stucki
Welcher Gegner hat ihn denn am meisten gefordert in seiner Karriere? Für Reichmuth ganz klar: Fabian Staudenmann. «Gegen ihn habe ich nie eine Lösung gefunden. Er macht fast keine Fehler.» Dass Staudenmann dieses Jahr trotzdem einige Gänge verlor, überraschte ihn. «Das machte ihn fast ein wenig menschlich. Vorher dachten viele: Was soll ich gegen den überhaupt machen?»
Sein sportlicher Höhepunkt erlebte Reichmuth im vierten Gang von Pratteln gegen Christian Stucki. «Mehr Emotionen gehen nicht», schwärmt er. Diese Spannung habe er nachher nie mehr verspürt. Auch die Erinnerungen vom Heim-ESAF in Zug bleiben unvergessen – wenn auch mit gemischten Gefühlen. «Da war ich einfach noch zu jung. Ich dachte, die Gegner fallen von alleine um, dabei hatte ich gerade mal vier Kranzfeste gewonnen.»
Klare Meinung zu ESAF-Fehlentscheiden
Weniger locker wird Reichmuth, wenn sich das Gespräch um Kampfrichter Ivo Zwingli dreht. Dessen Fehlentscheid im Gang zwischen Wicki und Collaud am vergangenen ESAF sorgt in Schwingerkreisen noch immer für Diskussionen. Reichmuth hat dazu eine klare Meinung: «Ich finde, man muss ihn für den Rest seines Lebens sperren als Kampfrichter.»
Der Zuger weiss, wovon er spricht. In Pratteln war er selbst Opfer eines Entscheids von Zwingli. Damals ging es im siebten Gang gegen Bernhard Kämpf um den Königstitel: «Die Parallele zu Wicki ist traurig. Für uns beide war es zu diesem Zeitpunkt sehr entscheidend, und beide Male lag Zwingli daneben.»
«Das Knie eines 80-Jährigen»
Jetzt geniesst Reichmuth die Freiheit. Das Knie, das Ärzte «wie das eines 80-Jährigen» beschrieben, schränkt ihn zwar ein, doch er nimmt es locker: «Pulverschneefahren geht sicher nicht mehr. Aber für mich reicht es, wenn ich mal eine Piste runterrutschen kann.» Bald will er nach sieben Jahren wieder die Skischuhe, in der Grösse 49,5, zuschnallen.
Als Zuschauer konnte der gelernte Metzger bisher noch an kein Schwingfest. Doch er freut sich «wie ein kleines Kind», wenn er dann mal als Zuschauer an einem grossen Fest dabei sein darf. Ob er dem Sport als Funktionär erhalten bleibt, weiss er noch nicht. «Als Betreuer kehre ich gerne auf die Schwingplätze zurück, und ob ich dann mal einem Amt angehöre, weiss ich noch nicht.»
Wirft der Ex-Schwinger bald profimässig Pfeile?
Pirmin Reichmuth, der seine Abende jetzt nicht mehr in staubigen Schwingkellern und schweissigen Muckibuden verbringen muss, greift dank seines Freundes Stefan Bellmont nun vermehrt zu den Dartpfeilen. Der Zuger nimmt dort die Rolle des Hobbyspielers ein, Bellmont ist Profi und steht kurz davor, erneut im legendären «Ally Pally» an der Darts-WM in London aufzulaufen. «Die Weichen sind gestellt», sagt Reichmuth stolz über seinen Freund.
Die beiden verbindet mehr als das Spiel mit den Pfeilen: Der Vater von Stefan Bellmont war jahrelang Präsident des Zuger Kantonalen Schwingerverbands. Kennengelernt haben sich die beiden Chamer aber ganz banal – wegen eines Parkplatz-Engpasses. «Ich fragte Pirmin, ob ich abends seinen Praxisparkplatz brauchen dürfe. So kamen wir ins Gespräch», sagt Bellmont.
Ein Profi-Darter wird Reichmuth selbst jedoch nicht mehr. «Dafür bin ich viel zu schlecht», sagt er lachend. Aber er geniesst es, eine andere Bühne gefunden zu haben. Ohne Druck und ohne Nervosität.
Meitli oder Bub? Es steht noch in den Sternen
Im Oktober erwarten Pirmin Reichmuth und seine Frau Marion ihr zweites Kind. Ob es ein Bub oder ein Mädchen wird, wissen beide noch nicht. Doch der bald zweifache Vater hat eine Tendenz: «Ich tippe auf ein Mädchen.»