Darum gehts
Würdest du gerne im Sumpf aufwachsen? Marlen Reusser (34), die neue Schweizer Zeitfahrweltmeisterin, hat genau das getan. Reussers Urteil dazu ist eindeutig: «Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen.»
Die Lösung des Rätsels: «Sumpf» ist der Flurname des Bauernhofs im idyllischen Hindelbank BE, auf dem Reusser gross wurde. «Ich war ein Luusmeitschi und hatte den besten Spielplatz der Welt. Ich konnte herumtoben, bis es dunkel wurde. Wir haben Versteckis gespielt und viel Blödsinn angestellt. Der Hof war schon immer mein Fels in der Brandung.»
Besonders wichtig waren für die zweifache Tour-de-Suisse-Siegerin dabei immer die Tiere. Zu Hündin Trixli hatte das kleine Mädchen eine ganz besondere Beziehung. Aber auch die Katzen und die Ponys waren ihr wichtig, sie fütterte, streichelte und pflegte sie.
«Schon als Kind merkte ich: Da läuft etwas falsch»
Umso schockierter war Reusser über das, was sie eines Tages auf ihrem Schulweg sah, als ein Lastwagen anhielt. «Sie hatten irgendwo in der Umgebung Hühner zur Schlachtung geholt. Ich schaute damals in die Kisten hinein. Die Hühner waren zusammengepfercht – einige waren tot, andere lebten noch. Es war ein elender Anblick.»
Reusser wurde irgendwann Vegetarierin und hält fest, wenn sie an das Hühner-Erlebnis zurückdenkt: «Das Letzte, was ich heute essen würde, wären Chicken Nuggets.»
Ihre Familie hatte damals keine Geflügelmast, aber eine Schweinezucht, und sie produzierte gemäss den Richtlinien mit sehr hohen Standards. «Doch das reichte mir nicht. Schon als Kind merkte ich: Da läuft etwas ganz falsch.»
Reusser beweist seit Jahren, dass man auch ohne Fleischkonsum Spitzensport auf höchstem Niveau machen kann. «Ich brauche auch keine vegetarischen Ersatzprodukte und bin top ernährt», sagt sie. Und sie ergänzt: «Ich bin weit davon entfernt, jemandem zu sagen, er solle kein Fleisch essen. Jeder darf tun, was er will. Ich habe einfach meine Ansichten und lebe auch nach ihnen.»
Man merkt: Das Tierwohl war und ist Reusser wichtig. Ganz generell setzt sie sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten für Umweltschutz und Natur ein.
Olympiagold 2028? «Mal schauen»
Obwohl Reusser derzeit mit Freund und Coach Hendrik Werner (42) hauptsächlich in Andorra wohnt, liegt ihre Zukunft nach dem Radsport im «Sumpf» – also dort, wo sie aufwuchs. Hier leben ihre Eltern noch heute in einem riesigen Bauernhaus mit Fachwerkfassade, und im Stöckli daneben wohnt ihre Schwester. Reusser und Werner werden eines Tages im alten Melkerhaus wohnen – sie lassen es seit einigen Monaten umbauen.
Wann der endgültige Umzug nach Hindelbank folgen wird? Reussers Vertrag bei Movistar läuft noch bis 2027. Da sind die Olympischen Spiele 2028 in Los Angeles (USA) nicht mehr weit. Nach dem Weltmeistertitel in Kigali (Ruanda) könnte sie in Kalifornien die nächste Goldmedaille anstreben, oder?
«Mal schauen», hält sie sich bedeckt. «Ich höre auf, wenn ich denke, dass ich alles erreicht habe. Oder wenn ich nicht mehr vorwärtskomme, weil ich mein ganzes Potenzial ausgeschöpft habe. Das ist momentan noch längst nicht der Fall.»