Darum gehts
- Felssturz in Blatten: Dorf evakuiert, Millionen Kubikmeter Gestein bedrohen Häuser
- Charlie Chaplin besuchte die Region und lobte die Schönheit der Fafleralp
- 18 Millionen Franken in Schutzmassnahmen investiert, Restrisiko bleibt bestehen
Am Montagmorgen kurz vor 10 Uhr heisst es in Blatten VS: «Raus, alle raus.» Die Menschen müssen raus aus ihren Häusern, aus ihrem Dorf. Am Kleinen Nesthorn oberhalb des Dorfs sind Millionen Kubikmeter Fels in Bewegung. Sie drohen auch am Dienstag noch das Dorf zu verschütten. Am Nachmittag sagte Alban Brigger von der kantonalen Dienststelle für Naturgefahren an einer Pressekonferenz: «Es ist offensichtlich: Die Bewegung ist dermassen gross, dass es zu weiteren Abstürzen kommen wird. Der Berg ist ziemlich zerrissen.»
Auch wenn über eine Million Kubikmeter Material inzwischen abgerutscht ist, am Berg hängen noch weitere rund drei Millionen Kubikmeter Fels. Also etwa 150'000 Lastwagen-Ladungen. Entwarnung für Blatten gibt es daher erst einmal nicht.
Für die evakuierten Bewohner sind es bange Stunden, ein ungeduldiges Warten. Auch wenn man sich im Dorf mit den Launen und Gefahren der Berge auskennt.
«Es gibt nichts Schöneres»
In Blatten leben schon lange Menschen mit und vom Berg. Erstmals urkundlich erwähnt wurde der Ort 1433. Archäologische Funde, wie eine bronzezeitliche Nadel, zeugen aber von einer noch älteren Besiedlung. Erst 1954 aber wurde Blatten durch eine Autostrasse erschlossen, was den Menschen ermöglichte, vermehrt ausserhalb des Tals zu arbeiten. Bis dahin lebten viele von der Berglandwirtschaft, also mehr oder weniger direkt vom Berg.
Schon immer beeindruckte die Landschaft um das hinterste Dorf im Lötschental. So war Charlie Chaplin mehrmals in der Region Blatten zu Gast, genauer auf der Fafleralp, noch etwas weiter hinten im Tal. Der weltbekannte Filmemacher schätzte die Gegend sehr, sagte sogar: «Es gibt nichts Schöneres als das!»
Lawinen und Murgänge
So schön die Berge um Blatten auch sind, sie stellen für das Dorf auch immer wieder eine ernste Gefahr dar. Die steilen Hänge und die Nähe zu Gletschern machen die Region anfällig für Naturgefahren wie Lawinen, Murgänge und Felsstürze. Besonders gefährdet sind die tiefen Erosionsrinnen des Schattenhangs; die Gefahr wird verstärkt durch abstürzende Eismassen der Hanggletscher. Wie eben nun wieder beim Kleinen Nesthorn.
Um diesen Gefahren zu begegnen, wurden in Blatten umfangreiche Schutzmassnahmen ergriffen. Dazu gehören Lawinenverbauungen, Steinschlagnetze und Dämme. Ein Beispiel ist das Schutzkonzept im Gebiet Helli, wo ein Rückhaltebecken und ein Umleitdamm Murgänge kontrolliert in die Lonza ableiten. Nach dem Lawinenwinter 1999 wurde auch diese Anlage massiv ausgebaut. In den letzten drei Jahrzehnten wurden rund 18 Millionen Franken in den Schutz des Dorfs investiert. Mit Erfolg: Von ganz grossen Katastrophen ist Blatten bislang verschont geblieben. Bei den verheerenden Hochwassern vom Herbst 2011 kam man recht glimpflich davon.
Die Grenzen des Machbaren
Doch die Menschen in Blatten wissen auch: Es gibt sie – die Grenzen des Machbaren. Der Berg lässt sich nie ganz kontrollieren, nie vollständig in die vom Menschen gewünschten Bahnen zwingen. Bauliche Schutzmassnahmen stossen irgendwann an ihre Grenzen – sowohl technisch als auch finanziell. Schutzbauten werden in der Regel für sogenannte 100-jährliche Ereignisse konzipiert. Für extrem seltene Bedrohungen mit einer Wiederkehrperiode von 500 oder 1000 Jahren aber sind die Kosten und der Aufwand kaum vertretbar, nicht nur in Blatten, sondern an allen Orten in den Bergen. Manchmal ist der Berg einfach stärker.
Zudem bringt der Klimawandel neue Unsicherheiten. Permafrostböden tauen auf, Hänge werden instabiler, Wetterextreme nehmen zu. Was früher als selten galt, könnte in Zukunft häufiger auftreten. Blatten setzt daher auf realistische Lösungen und ein funktionierendes Krisenmanagement. Wenn niemand weiss, wie viel Fels der Berg Richtung Tal werfen wird, dann müssen die Menschen halt weichen. «Raus, alle raus.»
Die Gemeinde hat gelernt, mit der Bedrohung zu leben und sich bestmöglich zu schützen. Doch absolute Sicherheit gibt es nicht. Ein Restrisiko bleibt immer – und mit dem muss man leben. Auch am Dienstagabend war klar: «Die Gefahr für Blatten ist noch nicht gebannt», wie Gemeindepräsident Matthias Bellwald an der PK sagte.