Darum gehts
Thomas Nick (42) galt als Musterknabe. Höflich, angepasst, schlau. Gewalt spielt in seinem Leben lange keine Rolle. Was sich zeigt, sind Lügen. Solche, die helfen, Probleme zu verstecken. Lügen, die den Schein wahren. Am 21. Dezember 2021 zerbricht die Fassade. Thomas Nick ermordet vier Menschen in Rupperswil AG: Carla Schauer (†48), ihre Söhne Davin (†13) und Dion (†19), dessen Freundin Simona (†21). Er kommt ins Gefängnis – jetzt will er raus.
Hinter Gittern gilt er als Mustergefangener. Einer, der Regeln einhält, Gespräche führt, Erwartungen erfüllt. Die Fähigkeit, zu überzeugen, trug ihn durchs Leben. Und wirkt bis heute. Wie Thomas Nick zu diesem Mann wurde, lässt sich aus den psychiatrischen Gutachten rekonstruieren, die von den Forensikern Josef Sachs und Elmar Habermeyer 2017 erstellt wurden – und Blick nun exklusiv vorliegen.
Thomas Nick wächst in geordneten, bürgerlichen Verhältnissen auf. Der Vater arbeitet viel, legt Wert auf Leistung, Ordnung, gutes Benehmen. Der Sohn eifert ihm nach.
Thomas – das Vorzeigekind. Sein älterer Bruder – das schwarze Schaf. Dieses Muster prägt ihn. Er lernt, was von ihm erwartet wird. Was er nicht erfüllen kann, versteckt er. In der 1. Klasse weigert er sich, vorzulesen. Weil andere Kinder besser sind. Er lernt, seine Schwächen zu verstecken.
Lügen über Sexualität
Fussball ist seine Leidenschaft. Mit dreizehn hört er auf, im Klub zu spielen. Denn er merkt, dass er sich zu anderen Buben hingezogen fühlt. Nick befürchtet, unter der Dusche eine Erektion zu bekommen.
Als die Mutter ihn später fragt, ob er schwul sei, verneint er. Seine Mitschüler in der Kantonsschule Aarau haben Freundinnen. Auch Nick sucht sich eine. Er vermeidet Situationen oder ahmt nach – weil er nicht auffallen will.
Nach aussen funktioniert er. Nach innen beginnt er, sich abzuschotten. Freundschaften brechen ab. Nähe wird schwierig. Doch das Bild bleibt intakt. Höflich, angepasst, schlau. Der Musterknabe hält stand.
Nach der Schulzeit steigen die Erwartungen. Nick weicht aus. Im Militär simuliert er Rückenbeschwerden und wird entlassen. Die Zulassungsprüfung zum Medizinstudium besteht er nicht.
Erfundene Karriere
Er sucht Ersatz. Studiengänge mit Ansehen. Jura. Architektur. Zahnmedizin. Doch Prüfungen misslingen. Fortschritte bleiben aus. Nick spricht nicht darüber, sucht Ausreden.
Er beginnt, nebenbei als Fussballtrainer zu arbeiten. Seinen Kollegen erzählt er, er habe das Medizinstudium wegen einer Krebserkrankung abgebrochen. Anderen sagt er, er arbeite in einem Labor.
Schliesslich schreibt er sich an der Universität Luzern für Geschichte ein. Das Studium fällt ihm leichter. Doch es bringt wenig Prestige. Nick lässt es schleifen. Zu Hause erfindet er Abschlüsse, fälscht Diplome.
Das anfängliche Lügen aus Scham und Angst wird zu seiner Lebensstrategie.
Schwägerin schöpft Verdacht
Dann stirbt sein Vater. Zu Hause, an einem Herzinfarkt. Nick versucht noch, ihn zu reanimieren. Ohne Erfolg. Abends im Bett weint er. Es ist einer von wenigen Momenten, in denen er starke Gefühle zeigt.
In seinem Kopf bestehen die Erwartungen des Vaters weiter. Nick tritt in dessen Fussstapfen. Er kümmert sich um die Mutter. Die Beziehung zwischen den beiden wird enger. Ihr erzählt er, Doktorand an der Uni zu sein. Sie glaubt seinen Lügen.
Die Partnerin seines Bruders hingegen schöpft Verdacht. Sie sieht Nick oft im Starbucks in Aarau. Wenn es um Beruf und Studium geht, weicht er aus. Später wird sie aussagen, sie habe versucht, ihre Bedenken zu verwerfen. Habe sie als Vorurteile abgetan. Ihre Kinder, darunter auch Nicks Göttibub, lässt sie dennoch nicht allein mit ihm.
Im Fussballklub trainiert er die Junioren. Mit einem Spieler (13) entwickelt er eine engere Beziehung. Ihm zeigt er ein Foto seiner angeblichen Freundin. Der Bub durchschaut ihn aber. Einmal witzelt Nick, er verlange eine Gegenleistung, wenn er ihn einlade. Der Spieler distanziert sich.
Raub- und Mordfantasien
Seine Pädophilie lebt Nick versteckt aus. Er konsumiert Kinderpornografie. Manchmal exzessiv. Dann löscht er seine Spuren.
Höflich, angepasst, schlau – so sieht ihn sein Umfeld. Nick hält sein Leben zusammen, indem er Lügen erzählt. Abgesehen von der Schwägerin und dem Spieler schöpft niemand Verdacht.
Doch je älter er wird, desto mehr Fragen tauchen auf. Mit 32 lebt er noch zu Hause. Seine Mutter finanziert ihn. Er hat kaum Freunde. Sein Lebensstil wirkt komisch, anders. Nick befürchtet, dass er auffliegen könnte.
Er beginnt, Lösungen zu suchen. Im Frühling 2015 denkt er über einen Raub nach. Er stellt sich vor, die Opfer anschliessend zu töten und deren Haus anzuzünden. Er kauft ein Küchenmesser, Kabelbinder, Brandbeschleuniger.
Sein Fokus verschiebt sich. Ein sexuelles Motiv tritt hinzu. Nick beginnt, sich mit der Familie Schauer zu beschäftigen. Mit dem Alltag. Mit dem jüngsten Sohn. Das Finanzielle rückt in den Hintergrund.
Rolle als Tarnung
Nick plant. Er recherchiert, beobachtet. Er lernt Rhythmen, entwickelt eine Rolle. Eine, die erklärt, warum er kommt – und warum man ihn hereinlässt.
Am 21. Dezember 2015 spielt Nick diese Rolle aus. Er gibt sich als Schulpsychologe aus. An der Haustür erzählt er Carla Schauer, ihr Sohn Davin sei in einen Mobbingfall verwickelt. Die betroffene Schülerin habe sich das Leben genommen.
Der Plan geht auf. Carla Schauer lässt ihn rein. Er fesselt die Familienmitglieder und erpresst die Mutter, für ihn Geld abzuheben. Er missbraucht Davin, filmt ihn. Dann ermordet er alle Anwesenden – und zündet das Haus an.
Am selben Abend sitzt er in einem Restaurant in Zürich. Zusammen mit zwei früheren Juniorenfussballern. Das Essen bezahlt er mit dem Geld, das er kurz zuvor erbeutet hat. Er kauft sich Markenkleider, geht ins Casino.
Fast ein Serientäter
Die Videos von Davin sieht er sich zu Hause an. Er plant weitere Taten. Macht andere Buben ausfindig. Im Mai 2016 wird er festgenommen.
Seitdem sitzt Thomas Nick im Gefängnis. Er benimmt sich, macht keine Probleme. Er kooperiert mit den Gutachtern. Sie beschreiben ihn als reflektiert. Als jemand, der sich öffnet.
Thomas Nick findet zurück in seine Rolle: höflich, angepasst, schlau. Er spricht von Therapie. Von Entwicklung. Von einem möglichen Weg zurück in die Gesellschaft. Es sind Sätze, die vertraut klingen. Sätze, die er beherrscht.
Nick weiss, was verlangt wird. Wie er sprechen muss. Wie er sich verhalten soll. Die Fähigkeit, sich zu zeigen, ohne sich preiszugeben, hat ihn weit gebracht. Nun soll sie ihn in die Freiheit führen.