Darum gehts
- Der Vierfachmörder von Rupperswil tut alles für seine Freilassung
- Hat auch ein Schwerstverbrecher Anrecht auf eine zweite Chance?
- Lebenslange Verwahrung – der Volkswille wurde nie richtig umgesetzt
Claudio Trentinaglia starb 2015 bei einem Velounfall an der Maggia. Er kam vom Weg ab, stürzte ins Flussbett – tödlich. Er wurde 73 Jahre alt, und kaum jemand kannte seinen echten Namen. Doch Jahrzehnte zuvor hatte er die Schweiz erschüttert: Als Günther Tschanun, Chef der Zürcher Baupolizei, erschoss er 1986 vier Kollegen an seinem Arbeitsort. Ein Amoklauf.
Zwei Vierfachmörder, eine Frage
Tschanun erhielt 20 Jahre Zuchthaus, verbüsste zwei Drittel, zeigte Reue, machte eine Gärtnerlehre. Danach lebte er zurückgezogen, staatlich geschützt, unter neuem Namen. Ein zweites Leben – ermöglicht durch einen Rechtsstaat, der selbst einem Vierfachmörder Perspektiven gibt.
Im selben Jahr, als Tschanun alias Trentinaglia starb, tötete Thomas Nick, damals 33, in Rupperswil AG vier Menschen: eine Mutter, ihre beiden Söhne, die Freundin des Älteren. Eine kalkulierte, grausame Tat. Nick fesselte, erpresste, missbrauchte, tötete. Und zündete das Haus an.
Zwei Vierfachmörder, zwei Täterprofile. Der eine verlor die Kontrolle, der andere handelte mit kalter Präzision. Und doch stellt sich bei beiden die gleiche Frage: Hat jeder Mensch, auch der schlimmste Täter, ein Recht auf eine zweite Chance?
Therapie für einen Mörder?
Zehn Jahre nach dem Verbrechen erringt Nick einen Teilerfolg: Das Aargauer Verwaltungsgericht verlangt, sein Antrag auf freiwillige Therapie sei zu prüfen. Diese müsse – im Erfolgsfall – eine realistische Perspektive auf Freiheit eröffnen.
Darf das sein?
Ein Mann, der vier Menschen ermordete? Der bereits eine zweite Tat plante? Die Justiz sagt: theoretisch ja. Das moderne Strafrecht setzt auf Resozialisierung, nicht auf Vergeltung. Ein Fortschritt – oder ein Risiko? In jedem Fall ein Test für das Vertrauen in den Staat.
Wenn das Vertrauen kippt
Der damalige Aargauer Polizeidirektor Urs Hofmann sagte mir Jahre nach Nicks Tat in einem Interview: «Der richtige Schock kam erst, als der Täter schon gefasst war und ich erfuhr, dass er eine zweite Tat geplant hatte. Ich habe gedacht: Wenn nochmals so etwas passiert wäre, hätte das die ganze Schweiz destabilisiert. Die Leute hätten den Glauben daran verloren, dass der Staat sie schützen kann.»
Das ist der wunde Punkt. Recht und Sicherheit leben vom Vertrauen. Wenn es schwindet, wankt mehr als ein Urteil – dann wankt der Staat.
Strafverteidiger und Bestsellerautor Ferdinand von Schirach sagt: «Die Justiz dient nicht der Rache, sondern dem Schutz der Gesellschaft – doch der Schutz darf nicht zur Vernichtung der Menschenwürde führen.» Strafe, so Schirach, sei immer auch für die Zukunft gedacht. Die Chance auf ein zweites Leben dürfe nicht pauschal ausgeschlossen werden.
Aber was, wenn diese Zukunft nie sicher sein wird?
Der perfekte Häftling
Thomas Nick tut alles, um als therapierbar zu gelten, gilt als vorbildlicher Häftling. Schon im Prozess beeindruckte er manchen Beobachter, manche Journalistin mit seinem Charisma.
Doch Forensiker warnen: Er sei manipulativ. In der Therapie bestehe die Gefahr, dass er Gutachter täusche.
Wer wagt es, ihn freizulassen?
Besonders brisant: Laut Volksentscheid sollen «extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter» lebenslang verwahrt werden. Die Initiative wurde 2004 angenommen – aber nie konsequent umgesetzt.
Das sei sicherheits- und demokratiepolitisch bedenklich, kritisiert der forensische Psychiater Frank Urbaniok. Der Fall Rupperswil zeige, warum: Gutachter und Gerichte hielten es nicht für ausgeschlossen, dass Nick in 20 Jahren therapierbar sein könnte. Mit dieser Logik, sagt Urbaniok, könne man faktisch niemanden mehr lebenslang verwahren.
Die Grundsatzfrage lautet: Soll ein Mensch wie Nick je wieder eine Chance auf Freiheit bekommen?
Die realistischere: Wird er sie bekommen?
Die Schweiz traut sich grundsätzlich nicht gern. Sie traut sich nicht, jemanden definitiv wegzusperren. Aber das Nicht-Trauen hat auch sein Gutes. Ich prognostiziere: Die Schweiz traut sich auch nicht, einen Menschen wie den Vierfachmörder Nick je wieder freizulassen. Oder wie es ein Forensiker diese Woche im Gespräch sagte: «Ich möchte nicht der Mensch sein, der den Vierfachmörder von Rupperswil in die Freiheit entlässt.»