Nach Bluttat in Berikon erklärt Jugendkonflikt-Expertin, was in solchen Fällen schiefläuft
«Hilfeschrei, der niemanden erreicht hat»

Nach der tödlichen Messerattacke von Berikon stellt sich die Frage: Wie konnte es so weit kommen? Denn die mutmassliche Täterin und das Opfer sollen befreundet gewesen sein. Eine Expertin für Erziehung und Konfliktmanagement spricht von einem Versagen des Systems.
Publiziert: 13:55 Uhr
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Aktualisiert: 14:13 Uhr
Das Tötungsdelikt von Berikon am Sonntag schockiert die Schweiz.
Foto: MICHAEL BUHOLZER

Darum gehts

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Martin MeulReporter News

Es ist früher Sonntagabend, als Luisa G.* (†15) und Annina B.* (14) in einem Waldstück in Berikon AG unterwegs sind. Was dann genau geschieht, ist unklar. Doch das Ende schockt die Schweiz. Luisa G. wird mit einem Messer schwer verletzt. Reanimationsversuche bleiben erfolglos – das Opfer stirbt noch am Tatort. Annina B. wird wenig später festgenommen. Sie gilt als mutmassliche Täterin. Nach Blick-Informationen sollen die beiden Jugendlichen ein enges Verhältnis zueinander gehabt haben – von einer Freundschaft ist die Rede. Ob ein Streit eskalierte oder andere Motive eine Rolle spielten, ist unklar. 

Für Sefika Garibovic (65), Erziehungsexpertin, Konfliktmanagerin und Buch-Autorin («Konsequent Grenzen setzen: Vom Umgang mit schwierigen Jugendlichen»), ist das Geschehene nicht einfach nur ein tragischer Einzelfall. Sie sagt: «Auch die Täterin ist ein Opfer.»

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Für Erziehungs- und Konfliktexpertin Sefika Garibovic ist die mutmassliche Täterin ebenfalls ein Opfer.
Foto: SABINE WUNDERLIN

Ein Problem des Systems

Hintergrund für die pikante Aussage: Das Gewaltpotenzial unter Jugendlichen wächst. Dies, weil emotionale Konflikte nicht ernst genommen würden, so Garibovic. «Wenn ein junges Mädchen ein anderes mit einem Messer tötet, dann ist das nie nur einfach eine Tat – sondern ein Hilfeschrei, der niemanden erreicht hat.»

Der vermutliche Tatort in Berikon.

Garibovic begleitet seit Jahren Schulen, Eltern und Jugendliche im Bereich Gewalt- und Konfliktprävention. Sie beschreibt ein Bildungssystem, das zwar Leistung einfordert, aber wenig Raum für emotionale Entwicklung lässt. «Diese Mädchen waren zuvor nicht wirklich auffällig. Das zeigt, wie schnell es gehen kann – auch bei scheinbar gut integrierten Jugendlichen.»

Was auffalle: Niemand habe etwas geahnt. Keine Lehrperson, keine Mitschülerinnen, keine Eltern. Aus ihrer Erfahrung weiss Garibovic: «Solche Taten kündigen sich nicht immer laut an. Oft gibt es aber feine Signale: Rückzug, Stimmungsschwankungen, plötzlicher Leistungsabfall. Aber wer nimmt sich heute noch Zeit, wirklich hinzuschauen?» Besonders bei Mädchen würden Probleme oft bagatellisiert. «Wenn sie wütend, eifersüchtig oder verzweifelt sind, heisst es schnell: ‹Die ist halt zickig.› Aber dahinter steckt oft sehr tiefer Schmerz.»

«Entsetzen, Fassungslosigkeit und lauter Fragen»
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Georg (77) aus Berikon:«Entsetzen, Fassungslosigkeit und lauter Fragen»

Jugendliche müssen Gefühle «lernen»

Für Garibovic steht fest: Die Prävention solcher Taten muss deshalb früher ansetzen. In der Familie, in der Schule, im Freundeskreis. «Man muss Jugendlichen beibringen, über Gefühle zu sprechen. Über Verlust, über Wut, über Angst. Wer das nicht kann, greift irgendwann zu drastischen Mitteln», sagt sie zu Blick.

Sie sieht darum die Gesellschaft in der Pflicht – nicht nur die Justiz. «Dieses Mädchen hat mutmasslich ihre Freundin getötet. Aber sie ist auch ein Kind. Eines, das offenbar nicht mehr weiter wusste. Und das darf uns nicht kaltlassen.» Alle seien gefordert, dass die Ursprünge solcher Taten früh erkannt und angegangen würden. «Jede solcher Tragödien ist eine zu viel», so die Konfliktexpertin.

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