Architektin Regula Lüscher über die Wohnungsnot
«Braucht wirklich jede Wohnung eine Küche?»

Die Wohnungsnot in der Schweiz spitzt sich zu. Um der Krise zu begegnen, schlägt Architektin und Stadtentwicklerin Regula Lüscher auch innovative Wohnkonzepte vor – und sie nimmt die Hüsli-Besitzer in die Pflicht.
Publiziert: 09:22 Uhr
|
Aktualisiert: 09:52 Uhr
Teilen
Anhören
Kommentieren
1/6
Architektin Regula Lüscher prägte über 14 Jahre lang verschiedene Grossbauprojekte in Berlin, wo sie als Senatsbaudirektorin und Staatssekretärin für Stadtentwicklung tätig war.
Foto: Anke Illing

Darum gehts

  • Wohnungsnot in der Schweiz: Leerstandsziffer unter einem Prozent in vielen Gemeinden
  • Architektin fordert Umdenken bei Wohnraum: Verdichtung und Teilen von Räumen
  • 47 Quadratmeter beträgt die durchschnittliche Wohnfläche pro Person in der Schweiz
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
RMS_Portrait_AUTOR_352.JPG
Pascal ScheiberReporter Gesellschaft

Wohnungsnot in der Schweiz: Seit diesem Sommer stehen in mehr als der Hälfte aller Gemeinden weniger als ein Prozent der Wohnungen leer. Die Architektin Regula Lüscher (63) aus Zürich arbeitete 14 Jahre als Senatsbaudirektorin und Staatssekretärin für Stadtentwicklung in Berlin und kennt die Wohnlandschaft hierzulande und in Deutschland. Sie fordert ein Umdenken von Politik und Wohnenden. 

Mehr als die Hälfte der Gemeinden haben eine Leerwohnungsziffer von unter einem Prozent. In der Schweiz herrscht Wohnungsnot.
Regula Lüscher:
Es ist höchste Eisenbahn. Der Zug ist abgefahren und fährt in hoher Geschwindigkeit. Es gibt Aspekte, welche wir nicht mehr steuern können. Die Mieten werden weiter steigen und der Quadratmeterverbrauch pro Kopf wird sinken, was ökologisch positiv ist. Aber primär Personen mit einem kleineren Portemonnaie werden in beengten Wohnverhältnissen leben müssen. Das kann zu sozialem Unfrieden führen.

In Zürich stehen teure und neue Wohnungen seit Monaten leer. Woran liegt das?
Das ist Gier. Wenn jemand ein Produkt hat und den Hals nicht vollkriegt, dann entstehen solch überteuerte Angebote. Ausserdem ist der Bodenpreis mittlerweile so hoch, dass der Investor seine Ausgaben nur mit hohen Mietzinsen bezahlen kann. Wenn das Land dem Staat gehören würde, dann stünde nicht der Gewinn oder die Rendite im Fokus, sondern das Gemeinwohl. 

Die Schweiz erlebte im Jahr 1989 eine noch tiefere Leerstandsziffer als heute, doch die Herausforderungen sind grösser. Wieso?
Die Schweiz hat mittlerweile ein Raumplanungsgesetz, das uns an die definierten Wohnzonen bindet. Wir können nicht mehr Wohngebiete schaffen, sondern müssen mit der bestehenden Fläche arbeiten und diese verdichten.

Was soll nun Hoffnung machen?
Der Bestand sollte als nachhaltiges Mittel genutzt werden, aber auch als günstigster Wohnraum. Wenn wir die bestehenden Wohnflächen in die Breite oder Höhe erweitern können, dann führt das eher dazu, dass wir eine Verdichtung hinkriegen – auch bei Einfamilienhäusern. Nur so können Wohnende in ihren Wohnungen bleiben. 

Im Hüsli-Land Schweiz sprechen Sie die heilige Kuh Einfamilienhaus an.
Ja, auch die privaten Hausbesitzer müssen sich fragen, ob es sinnvoll ist, wenn im Verhältnis wenig Menschen auf grosser Fläche leben. Früher lebten mehrere Generationen auf einem Grundstück. Die Jungen unten und die Grosseltern oben im Stöckli. Niemand vereinsamte. Ein Einfamilienhaus-Quartier soll nicht zur Hochhaussiedlung umgebaut werden, aber wenn die Wohnfläche durch Anbauen verdoppelt wird, hat das einen grossen Effekt. 

Bestand versus Neubau: Die Realität sieht jedoch anders aus. Ein Neubau ist oft unkomplizierter und günstiger.
Und das führt in der wohlhabenden Schweiz oft zum Abriss. Ökologisch ist das schlecht und vergrössert die Schere zwischen Arm und Reich, weil die Wohnpreise steigen. Hier braucht es Druck von den Behörden – beispielsweise mit einem Abrissverbot, das fällt, sobald Eigentümer nachweisen, dass sie nach dem Abriss mindestens doppelt so viele Menschen unterbringen wie im Bestand. Denn: Der Markt wird es nicht selbst regeln und die Folge wäre, dass ärmere Menschen aus den Zentren verdrängt werden und die soziale Durchmischung abnimmt. Mit dieser Idee meine ich nicht nur das Zentrum der Stadt Zürich, sondern auch Gemeinden in der Agglomeration oder auf dem Land.

Im Schnitt verbraucht jede Person heute in der Schweiz rund 47 Quadratmeter Wohnfläche. Ist das mit der wachsenden Bevölkerungszahl und dem beschränkten Wohnraum noch realistisch?
Wir Schweizerinnen und Schweizer müssen da über die Bücher. Braucht wirklich jede Wohnung alles oder könnten Wohnparteien bestimmte Dinge teilen? Die Küche, die Stube oder das Gästezimmer beispielsweise. Reicht es, wenn die Wohnung kleiner ist, aber das Büro in einem Co-Working-Space im Quartier ist? Dafür muss man bereit sein zu teilen. Viele Wohnbaugenossenschaften gehen bereits diesen Weg. Bei privaten Investoren oder Pensionskassen steht jedoch der «anonyme» Wohnungsbau im Fokus. 

Sie arbeiteten 14 Jahre in Berlin als Senatsbaudirektorin und Staatssekretärin für Stadtentwicklung. Was macht Deutschland besser?
Die Schweiz setzt auf Kooperation und Eigenverantwortung. Deutschland setzt auf Zwang. Das liegt an der Mentalität. Der deutsche Staat hat daher griffigere Mittel, um Vorgaben zu machen. Ein Beispiel: Mit dem Vorkaufsrecht kann der deutsche Staat Grundstücke kaufen oder Baugebote aussprechen, um die Bodenspekulation zu unterbinden. Dass die Schweiz auf Vernunft und Eigenverantwortung setzt, ist super. Aber ich bin mir nicht sicher, ob in der jetzigen Situation das alleine genügt.

Teilen
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Heiss diskutiert
    Meistgelesen
      Meistgelesen