Koma, Ängste und Erfolge
Die emotionale Geschichte der Ski-Geschwister Gisin

Michelle Gisin erlitt bei einem schweren Sturz in St. Moritz Halswirbelbrüche. Die Operation verlief erfolgreich, doch ihre Rückkehr in dieser Saison ist ungewiss. Die Gisins, das erfolgreichste Geschwistertrio im Weltcup, stehen erneut vor einer Herausforderung.
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Am Mittwochabend war Michelle Gisin beim Blick-Shooting noch gut gelaunt. Die Form stimmte, sie freute sich diebisch auf die Rennen in St. Moritz.
Foto: keystone-sda.ch

Darum gehts

  • Michelle Gisin erlitt schweren Sturz in St. Moritz mit Halswirbelbrüchen
  • Gisin geht offen mit Angst um, inspiriert von ihrem Technik-Coach
  • Einzige Schweizerin seit Vreni Schneider mit Podestplätzen in allen Disziplinen
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Mathias GermannReporter Sport

Hast du manchmal Angst? «Respekt, ja. Angst, nein», sagen fast alle Ski-Profis. Geschätzt 99 Prozent. Michelle Gisin (32) gehört nicht dazu. «Ja, ich habe manchmal Angst», sagte sie 2019. Früher dachte sie anders. Bis ihr Technik-Coach Alois Prenn erklärte, Angst sei etwas Gutes. Man müsse sie nicht bekämpfen. «Das öffnete mir die Augen. Seither kann ich besser damit umgehen.»

Furcht schützte Gisin stets vor Selbstüberschätzung. Sie ist das Gegenteil von Sofia Goggia (33). Die Italienerin fuhr nach überstandenen Verletzungen weiter, als wäre nichts gewesen. Legendär: 2022 brach sie sich in St. Moritz GR die Hand, schwang nicht ab und wurde Zweite. Danach reiste sie nach Mailand, liess sich operieren, kehrte in der Nacht zurück ins Engadin und gewann wenige Stunden später die Abfahrt – mit frischer, blutender Wunde. Wie das möglich war, wollten Journalisten wissen. «Meine Hand ist ja nicht mehr gebrochen, sondern geflickt», sagte sie.

Natürlich, Goggia ist eine Ausnahme. Gisin tickt anders. Auch wegen ihrer Schwester Dominique (40). Die Abfahrts-Olympiasiegerin von 2014 riss sich während ihrer Karriere Kreuzband, Innenband und Meniskus – mehrfach. Auch die Kniescheibe brach zweimal. Als Dominique erstmals mit einem Kreuzbandriss im Spital lag, war Michelle fünf Jahre alt. Sie erlebte das Leiden ihrer Schwester am Bettrand mit. So wie alle späteren Verletzungen. Deshalb versprach sie Mutter Bea Jahre später, sich auf den Slalom zu konzentrieren.

Sie hielt Wort. Mit 17 erlitt Michelle selbst einen Kreuzbandriss. Danach fuhr sie jahrelang nur Slalom. Später dann auch Riesenslalom, Kombination und im 39. Rennen den ersten Super-G. Vier Jahre nach ihrem Weltcupdebüt folgte die erste Abfahrt. Gisin überraschte sich und die Ski-Welt: Platz 7 in Val d’Isère. «Wahnsinn!», sagte sie.

Da zeigte sich, was viele ahnten und die Familie wusste: Auch Michelle hat Speed im Blut. Sie liebt das Tempo. «Mental gehöre ich eher zu den schnellen Disziplinen», sagte sie. Und: «Slalom und Abfahrt sind zwei Welten. Im Slalom herrscht schon bei der Besichtigung Stress. Im Speed ist der Respekt grösser, die Stimmung ruhiger. Wenig entscheidet darüber, ob du gesund runterkommst oder nicht.»

Gisin sagte: «Im Training sehe ich mich oft stürzen»

Dominique begleitete Michelle bei ihren ersten Speed-Schritten. Das war wertvoll. Denn: Michelle kannte die Weltcupstrecken nicht. Der Plan funktionierte. Zwischen 2017 und 2024 fuhr sie 18-mal in die Top 5 – auf sehr unterschiedlichen Speedkursen. Nach dem Winter 2017/18 war sie sechstbeste Abfahrerin, viertbeste Super-G-Fahrerin. Und Kombi-Olympiasiegerin. Die Vorsicht blieb. Als Bruder Marc 2018 in Gröden fürchterlich stürzte und im Koma lag, litt sie mit. Er erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma, mehrere Knochenbrüche und eine Lungenquetschung und lag danach tagelang im Koma. Marc wurde wieder gesund, fuhr aber nie mehr ein Rennen. «Das war der Horror», sagte Michelle rückblickend. «Ich habe viel daraus gelernt. Es relativiert alles.»

Michelle Gisins Verhältnis zum Speed blieb ambivalent. Sie fuhr stark, sagte aber: «Im Training sehe ich mich oft stürzen. Das hatte ich immer.» Einmal, in Lake Louise, geriet sie bei 100 km/h aus der Linie und raste einen Meter am Netz vorbei. «Da sah ich meine Mutter vor mir. Sie rief: Steh auf den Aussenski!» Gisin tat es – und fuhr aufs Podest.

Vor dem Winter 2019/20 kündigte Gisin an, die Abfahrtskugel holen zu wollen. Das misslang – auch wegen eines Knorpelschadens und einer Kreuzbandzerrung im Vorwinter. «Ich bin kein Kamikaze», sagte sie. «Wenn ich mich auf einer Piste nicht wohlfühle, zieht das Männchen im Kopf die Bremse. Ich riskiere nicht mein Leben.» Auf die Frage, welche Superkraft sie gerne hätte, sagte sie einmal: «Die Fähigkeit, zu heilen.»

Sie blickte stets über den Ski-Tellerrand hinaus

Letzten Donnerstag in St. Moritz riskierte Gisin nicht leichtsinnig. Sie war in starker Form. Trotzdem stürzte sie schwer. Halswirbelbrüche, hochgefährlich. «Sie hatte viel Glück», sagte Marc (37). Die Operation gelang – auch jene an der Hand. Wie es dem Knie geht, ist offen. Marc ist skeptisch. «Das Video zeigt, dass wohl nicht alles heil blieb.» Hört man sich um, kommt man zum Schluss: Kaum jemand glaubt an ein Comeback in diesem Winter. Marc: «Die letzten 24 Stunden waren der Horror. Für unsere Eltern eine Katastrophe. Sie haben bei all unseren Unfällen viel durchgemacht.»

Ist auch Michelle Gisins Karriere vorbei? Sie wird es entscheiden. Fakt bleibt: Gisin ist die einzige Schweizerin seit Vreni Schneider (61), die es schaffte, in jeder Disziplin aufs Podest zu fahren. Die Winterspiele in Cortina (It) waren ihr vielleicht letztes grosses Ziel. Ohne sie hätte sie nach der verkorksten Saison wohl aufgehört. Dazu muss man wissen: Gisins Verbindung zu Italien ist eng. Ihr Verlobter, Riesenslalom-Spezialist Luca De Aliprandini (35), stammt aus dem Trentino. Sie spricht fliessend Italienisch. Und die beiden haben in Riva (It) ein Häuschen am Gardasee. 

Wichtiger als die Karriere: Gisin dürfte keine bleibenden Schäden davontragen. «Es gibt ein Leben neben dem Skirennsport. Und das ist, so sehr ich meinen Beruf liebe, mindestens so spannend», sagt sie. Fest steht: Die Gisins sind nicht nur das erfolgreichste Geschwistertrio in der Geschichte des Weltcups. Auch ihr Zusammenhalt reicht weit über die Grenzen des Sports hinaus.

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