Wer an einem brütend heissen Tag mit Vreni Schneider (60) auf der Suche nach einer schattigen Ecke über das riesige ESAF-Gelände spaziert, braucht etwas Geduld. Denn die Ski-Legende bleibt natürlich nicht unerkannt. Und obwohl sich Schneider alle Mühe gibt, zügig vorwärtszukommen, lässt sie keinen Gruss aus, es gibt ein Hallo hier, einen kleinen Schwatz da.
Die berühmteste Sport-Glarnerin ist auch 30 Jahre nach ihrem Rücktritt derart beliebt, dass sie einem der unzähligen Aufbauhelfer auf dem Gelände nur schon mit ihrer Anwesenheit ein Geburtstagsgeschenk macht: Das Selfie mit Schneider, geschossen am eigenen Geburi, wird den Mann sicherlich das Leben lang als besondere Erinnerung begleiten.
Obwohl sie es seit Jahrzehnten nicht anders kennt, ist Schneider die Aufmerksamkeit eigentlich nicht so recht. Sie würde am liebsten alle Helfer in den Vordergrund rücken. «Es ist einfach gewaltig, wie fleissig hier das Ganze auf die Beine gestellt wurde und wie viele Leute sich enorm dafür eingesetzt haben», sagt sie. Ihre eigene Rolle als offizielle ESAF-Botschafterin? Die sei ja nur marginal.
Einen Bezug zum Schwingsport musste sich die Ski-Grösse für ihre Rolle nicht zuerst zusammenkonstruieren. Schneider schildert, dass sie den Nationalsport schon immer im Herzen trägt und auch immer wieder gerne Feste besucht. «Wir waren schon immer eine sportbegeisterte Familie. Im Winter gabs Ski, im Sommer Schwingen. Vor allem mein Vater war ein grosser Schwingfan. Als er das Sitzen den ganzen Sonntag an den Festen nicht mehr so gut vertrug, hat er es intensiv am Fernseher verfolgt. Und wenn ich ein Fest besuche, bin ich vom Anschwingen bis zum Schlussgang auf meinem Platz, weil ich nichts verpassen will.»
Höchste Zeit also, «Vreni National» ins Kreuzverhör zwischen Schnee und Sägemehl zu nehmen.
Blick: Schwingen war in Ihrer Familie schon immer ein Thema. Konnten Sie sich für Ihre Karriere etwas abschauen?
Vreni Schneider: Die Fairness und das Kameradschaftliche aus dem Schwingen habe ich immer als Vorbild genommen. Natürlich will jede gewinnen, und jeder Schwinger will König werden. Aber am Ende respektiert man die Gegnerinnen, das war mir immer wichtig. Solche Werte sind leider nicht mehr selbstverständlich in der heutigen Zeit.
Hätten Sie in Ihrer Karriere gerne mal jemanden so richtig auf den Rücken gelegt?
Nein, ich bin eigentlich eine friedliche Person. Natürlich kann auch ich nicht immer gut aufgelegt sein. Aber im Grossen und Ganzen kann man mit mir stets diskutieren.
Hätten alle Ihre grossen Siegfahrten die Maximalnote 10 verdient?
(Lacht.) Ich bin sehr glücklich, dass bei uns einzig die Stoppuhr über alles entschied und wir keine Noten wie im Schwingen, Skispringen oder im Turnen haben. Ich habe grossen Respekt gerade hier am ESAF vor den Kampfrichtern. Was sie machen, ist auch Spitzensport.
Schwingen ist ein Kampf Mann gegen Mann, im Skirennsport kämpft jede für sich alleine auf der Piste. Wären Duelle Frau gegen Frau etwas für Sie gewesen?
Wir hatten auch Parallelrennen. Doch ich war ja immer eine langsame Starterin. Bis ich da mal aus dem Häuschen war, war die Gegnerin schon fast beim ersten Tor (lacht). Eine andere Parallele zum Skirennsport fällt mir jetzt aber gerade noch ein.
Was meinen Sie?
Die Schwinger sind Einzelsportler, aber sie trainieren gemeinsam. Das macht alle in der Mannschaft stärker. So war es bei uns in den 80er- und 90er-Jahren auch. Natürlich waren wir Gegnerinnen auf der Piste, aber daneben waren wir ein echt starkes Team. Wenn es keine internen Probleme und keinen Zickenkrieg gibt, ist man am erfolgreichsten. Das aktuelle Schweizer Ski-Team tritt ja auch wieder so geeint auf, die Erfolge sprechen für sich.
Nun stellen Sie sich vor, Sie hätten früher statt einer Olympia-Goldmedaille jeweils einen Muni und ein Eichenlaub bekommen.
Bei uns ist es nun mal um Goldmedaillen gegangen. Doch beim Schwingen sind die Preise schon sehr beeindruckend.
Fordern Sie einen Gabentempel für den Skirennsport?
Beim Gabentempel wird man schon ziemlich neidisch, da sind teilweise sehr wertvolle Gegenstände dabei. Natürlich, im Skifahren müssen sich die Podestfahrer nicht beklagen. Aber jemand, der erst gerade in FIS-Rennen oder im Europacup die Karriere startet, muss froh sein, wenn das Material bezahlt ist. Und selbst im Weltcup auf den hinteren Rängen gibts nicht mehr viel. Im Schwingen bekommt sogar der Letztplatzierte im Gabentempel noch etwas.
Würde der Skirennsport wie das Schwingen funktionieren, hätten Sie nie Rennen im Ausland gefahren. Eine schöne Vorstellung?
Gar nicht! Vor allem Anfang der Karriere habe ich das Reisen geliebt, ich konnte als junge Frau die Welt entdecken. Das Reisen hat mich enorm bereichert, es war eine Lebensschule. Sonst wäre ich ja eventuell nicht weiter als ins schöne Wallis gekommen (lacht).
Zum Schluss ist Vorstellungskraft gefragt. Was ist schlimmer, bei einem Sturz auf der Piste den Mund voller Schnee zu kriegen oder beim Schwingen ein Mundvoll voller Sägemehl?
Ui! Es kommt beim Skifahren stark auf das Tempo an. Bei einem heftigen Sturz den Schnee im Mund zu haben, ist ziemlich übel. Aber beim Sägemehl ist das Gefühl vom fast Ersticken sicher schlimm, weil es derart trocken ist. Das stelle ich mir sehr, sehr unangenehm vor.