Darum gehts
- Amerikanische Trinkgeldkultur in der Schweiz stösst auf Widerstand
- Kreditkartenterminals fragen nach Trinkgeld mit festgesetzten Prozentsätzen
- Trinkgeld an Weihnachtsmärkten meist 3%–15%
Die amerikanische Trinkgeldkultur hält immer mehr Einzug in der Schweiz und macht die hiesigen Kunden hässig. 10, 15 oder 20 Prozent Trinkgeld werden bei der Kartenzahlung automatisch vorgeschlagen – für einen Glühwein, für den man eine Viertelstunde an der Bar ansteht: «Unverständlich», sagen Passanten und Kunden.
Importiert wurde das System mit festgesetzten Prozentsätzen aus den USA, wo Servicekräfte einen Bruchteil der hiesigen Stundensätze verdienen und darum angewiesen sind auf diesen Zustupf. Das System stösst aber bei den Schweizer Kunden auf Widerstand, viele fühlen sich bedrängt und geben aus Trotz kein Trinkgeld an die Verkäufer.
«Tendenziell mehr Trinkgeld»
Das System nutzt Irem Bilen, die am Zürcher Wienachtsdorf beim Opernhaus einen Chai-Stand betreibt: «Ich finde es persönlich cool, dass es diese Option gibt, bin aber nicht enttäuscht, wenn jemand kein Trinkgeld gibt.»
Das Trinkgeld halte sich an einem Weihnachtsmarkt ohnehin in Grenzen, sagt die Tee-Verkäuferin. «Es gibt vereinzelte Leute, die sehr grosszügig sind. Meistens gibt es aber kein Trinkgeld, manchmal bekommen wir drei Prozent.» Mit dem Prozente-System seien die Kunden aber grosszügiger als ohne: «Grundsätzlich glaube ich, dass mit dem System tendenziell mehr Trinkgeld gegeben wird.»
Bilen sagt, dass sie sich nicht anders verhalte, um Trinkgeld zu bekommen: «Ich bin grundsätzlich eine warme und einladende Person. Umso schöner ist es, wenn die Menschen dies schätzen und einem auch mit einem kleinen Trinkgeld wissen lassen.»
«Kunden sind selbstbewusst»
Druck auf die Kunden spüre sie nicht: «Die Leute drücken sehr selbstbewusst auf die 0-Prozent-Option», sagt Bilen. Diskussionen gäbe es eher, weil am Markt nicht bar bezahlt werden könne.
Während die meisten Stände am Zürcher Wienachtsdorf über das System verfügen, arbeitet der Cookie-Stand als einer von wenigen noch ohne diese Option, wie Gaba Z.* (31) erzählt. Mit allen Nachteilen: «Trinkgeld wird selten gegeben. Manchmal mit Twint, aber im besten Fall einmal am Tag, meist zwischen 50 Rappen und einem Franken.» Wobei sie sich vorstellen könne, dass das Trinkgeld mehr werden würde, wenn man mit dem neuen System arbeiten würde.
Wenig verbreitet in der Schweiz
Blickt man auf den Rest der Schweiz, spielt das amerikanische Prozente-System ohnehin kaum eine Rolle. Am Weihnachtsmarkt in der Winterthurer Altstadt kann noch immer auf alle erdenklichen Arten bezahlt werden. Automatische Trinkgeld-Anfragen gibt es keine.
Julio Melendez (37) verkauft dort Alpaka-Produkte und weiss: «Ich bin froh, dass man hier noch bar bezahlen kann. Es gibt viele ältere Leute, die mit der neuen Technologie nicht vertraut sind.» Letztes Jahr habe er seinen Stand auch noch am Zürcher HB gehabt: «Aber dieses Jahr haben sie verlangt, dass man nur noch cashless bezahlen könne. Das ist ein Zwang, darum habe ich darauf verzichtet.» Persönlich findet er die Entwicklung ohnehin schwierig: «Ich möchte einfach keinen vorbestimmten Betrag geben.»
«Ich finde das dreist»
Im Oltner Adventsdorf klingt es ähnlich. Manfred von Arx (57), findet klare Worte zum Prozente-System: «Ich finde das dreist.» Im Restaurant sei es okay, da man dort bedient werde. «An einem Stand finde ich das aber nicht richtig.»
Entspannter sieht das Amadeus Gmür (60) in Olten: «Es ist ja immer noch ‹nur› eine Frage. Man kann ja ablehnen.» Es könne aber manchmal aufdringlich sein.
«Vom Personal geschätzt»
Lucas Lopez (23) aus Dübendorf ZH besucht am Dienstag den Weihnachtsmarkt in Zürich und geht äusserst entspannt mit der Thematik um: «Die Leute arbeiten viel und geben sich Mühe. Da ist ein Trinkgeld normal.» Das neue System mache zwar Druck, er schäme sich aber nicht, keines zu geben. Es wisse aber als Verkäufer auch, dass solche Gesten vom Personal sehr geschätzt würden.