Wegen fahrlässiger Tötung – Walliser Ärztinnen schuldig gesprochen
«Dieses Urteil ist sehr ungewöhnlich»

In einem seltenen Urteil wurden zwei Ärztinnen in Visp VS wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Sie erhielten hohe Geldstrafen für Versäumnisse bei der Behandlung eines Patienten, der an einer Aortendissektion starb. Ein solches Urteil ist selten, erklärt ein Experte.
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Das Bezirksgericht in Visp VS hat am Donnerstag zwei Medizinerinnen wegen fahrlässiger Tötung schuldig gesprochen.
Foto: zVg

Darum gehts

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Martin MeulReporter News

Zwei Ärztinnen sind schuld, den Tod von Alain Guntern (†48) auf fahrlässige Weise mitverursacht zu haben. Das hat das Bezirksgericht Visp am Donnerstag entschieden.

Dass Mediziner vor Gericht stehen, geschieht regelmässig. Dass sie aber einen Schuldspruch kassieren, kommt praktisch kaum vor. Doch in diesem Fall sollen die beiden Ärztinnen ihre Sorgfaltspflicht mehrfach verletzt haben. Der Richter sprach gar von «krimineller Energie». Sogar für den versierten Fachanwalt Strafrecht André Kuhn ist das Urteil eine Überraschung. Eine Analyse.

«Dieses Urteil ist sehr ungewöhnlich», sagt Kuhn zu Blick. Der Grund: Die Hürden für eine Verurteilung von Ärzten wegen Fahrlässigkeit sind hoch.

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Notfallärztin Helena I.* wurde verurteilt. (Archivbild)
Foto: Martin Meul

Was ist fahrlässig?

Fahrlässigkeit gliedert sich vorliegend in drei Elemente: Sorgfaltswidrigkeit, Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit. Kuhn erklärt «Sorgfaltswidrigkeit bedeutet: Hat der Arzt lege artis, also nach den Regeln der ärztlichen Kunst, gehandelt? Der Massstab ist ein vernünftiger Dritter mit denselben Kenntnissen. Es gibt keine gesetzlichen Normen zur Sorgfalt, aber es existieren ärztliche Leitlinien.» 

Dann sei da die Voraussehbarkeit, so Kuhn weiter. «War der eingetretene Schaden aufgrund der Sorgfaltswidrigkeit absehbar?» Heisst: Musste mit dem Tod dieses Patienten gerechnet werden, wenn der Arzt nicht sorgfältig arbeitete?

Und drittens die Vermeidbarkeit: Wäre der Schaden bei pflichtgemässem Verhalten vermeidbar gewesen? Hätte also der Patient mit grosser Wahrscheinlichkeit überlebt, wenn der Arzt sorgfältig gearbeitet hätte?

Ein Schutz für Ärzte

All das mache Verurteilungen im Bereich der Medizin schwierig, fast unmöglich. Der Strafrechtsexperte findet aber auch, dass die tiefe Verurteilungsquote von Medizinern richtig ist. «Wenn jeder Todesfall automatisch zu einer Verurteilung führen würde, würde kein Arzt mehr auch nur das geringste Risiko eingehen. Patienten sind aber darauf angewiesen, dass Ärzte auch risikoreiche Operationen durchführen.»

Im Todesfall von Alain Guntern sah das Gericht die Voraussetzungen für eine fahrlässige Tötung als gegeben an. Der Walliser Apothekerpräsident starb im Herbst 2020 an einer Aortendissektion, obwohl er Stunden zuvor ins Spital gekommen war. 

Wie schlecht es dem Mann wirklich ging, fiel aber weder der Notfallärztin Helena I.* (56) noch der Radiologin Noelle V.* (61) auf.

Jetzt befand Richter Rochus Jossen die beiden Ärztinnen der fahrlässigen Tötung für schuldig. Die Notfallärztin Helena I., die nicht vor Gericht erschien, kassierte eine bedingte Geldstrafe in der Höhe von 16'000 Franken. Zudem muss sie eine Busse von 2000 Franken bezahlen.

Deutlich härter wird die Radiologin Noelle V. bestraft. Für sie gibt es eine bedingte Geldstrafe von 88'000 Franken sowie eine Busse von 9900 Franken. Mitunter ein Grund für das höhere Strafmass: V. hat sich auch der Urkundenfälschung schuldig gemacht. 

Sorgfaltspflicht verletzt

Ausschlaggebend für die Verurteilung war für das Gericht, dass die beiden Ärztinnen ihre Sorgfaltspflicht mehrfach verletzt hatten.

Obwohl die Symptome und die Familiengeschichte des Patienten (sein Vater hatte ein Aorten-Aneurysma) deutliche Warnzeichen für einen Riss der Hauptschlagader (Aortendissektion) waren, wurde diese lebensbedrohliche Diagnose von der zuständigen Notfallärztin Helena I. nicht in Betracht gezogen.

Ein durchgeführtes Lungen-CT zeigte eine massiv erweiterte Aorta – ein alarmierender Befund. Doch laut Gericht ignorierten die beiden Frauen dies und erwähnten es nicht einmal im ersten Befund. Der Patient wurde aufgrund dieser Fehldiagnose auf eine normale Bettenstation ohne besondere Überwachung verlegt, wo er am nächsten Morgen leblos aufgefunden wurde.

«Kriminelle Energie»

Schliesslich kam Richter Jossen dann auf den Tatbestand der Urkundenfälschung durch die Radiologin Noelle V. zu sprechen. Sie hat am Todestag von Alain Guntern den ursprünglichen, unauffälligen Kurzbefund im Computersystem gelöscht und durch einen neuen, auf den Vortag rückdatierten Schlussbericht ersetzt, in dem die Aortenerweiterung plötzlich erwähnt wurde. 

«Das zeugt von einer kriminellen Energie, und das ist verwerflich», so Richter. Die Radiologin habe durch diese Handlung versucht, sich selbst zu schützen. 

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

* Namen geändert 

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