Darum gehts
- Luzerner Ärzte vor Gericht, weil ein Baby während einer Leistenbruch-Operation starb
- Verdacht auf Williams-Beuren-Syndrom wurde vor OP nicht ausreichend berücksichtigt
- Staatsanwaltschaft fordert teilbedingte Freiheitsstrafe von drei Jahren für Ärzte-Team
Kein OP-Aufschub möglich
Der Anwalt der Kinderchirurgin schildert noch einmal den zeitlichen Ablauf zwischen der Geburt von Ali und der fatalen Operation.
«DIe Leistenhernie des Buben hat sich über kurze Zeit stark akzentuiert», so der Verteidiger. «Das erforderte eine Operation ohne Aufschub.»
Drei Wochen später also habe man die OP angesetzt.
Auch Kinderchirurgin soll freigesprochen werden.
Nun übernimmt der letzte Verteidiger das Wort. Er wolle seinem Plädoyer eine spezielle Note geben und die Sicht seiner Mandantin, der Kinderchirurgin, zu erklären.
Es sei falsch, nach Methode «Giesskanne» die ganze involvierte Ärzteschaft zu verurteilen. Er wendet sich an das Gericht: «Wenn Sie meine Mandantin schuldig sprechen, obwohl sie nicht einmal am Werk war, verfallen Sie dem Rückschaufehler.»
Damit meint er, dass ein tragischer Vorfall im Nachhinein anders bewertet wird, als in der Situation, als die Entscheidungen tatsächlich gefallen sind.
Seine Mandantin sei entsprechend freizusprechen und ihr sei eine Genugtuung zu zahlen.
«Grösste Persönlichkeitsverletzung für einen Arzt»
Der Verteidiger spricht nun seit über 75 Minuten. Die Gerichtspräsidentin zupft an einer Haarsträhne. «Mein Mandant ist freizusprechen», wiederholt er.
Das «grosse Medieninteresse» habe seinen Mandanten schwer belastet. Der Vorwurf, den Tod seines Patienten willentlich herbeigeführt zu haben, sei die grösste Persönlichkeitsverletzung für einen Arzt. Damit schliesst der Anwalt sein Plädoyer.
«Angeklagte Tat frei erfunden»
Die Ärzte hätten ihre Sorgfaltspflicht nicht verletzt, sagt der Verteidiger abschliessend. «Die angeklagte Tathandlung ist frei erfunden.» Die Straftatbestände seien falsch und nicht erfüllt.
Die Anklage habe nicht erhoben werden dürfen. «Es gab keine Alternative zum Vorgehen der Ärzte», so der Verteidiger. Der Tod des kleinen Ali sei nicht vorhersehbar und wohl auch nicht vermeidbar gewesen.
Heftige Kritik von Verteidiger: «Schlicht daneben»
Der Verteidiger hält sich nicht zurück. Er kritisiert die Gutachter des Rechtsmedizinischen Instituts Zürich minutenlang. «Aus kardiologischer Sicht ist das Gutachten schlicht daneben», schlussfolgert der Anwalt.
So zerpflückt der Verteidiger die Anklage
Der Verteidiger des Kinderkardiologen fokussiert insgesamt auf vier Punkte:
- Die Ärzte wussten nichts vom Verdacht auf das Williams-Beurer Syndrom bei Ali, weil dieser nicht präsent in der Akte erwähnt wurde.
- Es gebe keine Studien, die belegen, dass Babys mit diesem Syndrom bei einer Narkose eher versterben. Ähnliche Fälle seien am Kantonsspital Luzern ohne Komplikationen verlaufen.
- Sein Mandant sei nicht eingebunden gewesen in den Entscheid, ob eine Operation am Säugling durchgeführt werden soll.
- Die medizinischen Gutachter, die von der Staatsanwaltschaft engagiert wurden, seien keine Experten. Ihre Erkenntnisse seien entsprechend nicht glaubhaft.
«Überhaupt nur wenige Minuten im OP»
Nun spricht der Verteidiger von dem Moment, nachdem Ali den ersten Herzstillstand erlitten hatte. «Mein Mandant fand eine stabile Situation vor.»
Der Säugling sei zuvor erfolgreich wiederbelebt worden. Der Kinderkardiologe habe ihn untersucht und eine ordentliche Herzfunktion bestätigt. Danach sei er zurück an eine wichtige Sitzung gegangen. «Mein Mandant war überhaupt nur wenige Minuten im OP. Er war bei der Narkoseeinleitung gar nicht dabei», so der Verteidiger.
Als der Kreislauf von Ali erneut kollabierte, sei der Kardiologe wieder gerufen worden. «Jetzt fand er eine andere Situation vor», erzählt der Anwalt. Die Reanimationsversuche konnten das Baby nicht mehr retten.
Bei ähnlichen Patienten sei OP gut verlaufen
Der Verteidiger erzählt von Patienten mit derselben Krankheit, die am Luzerner Kantonsspital operiert wurden. «Die Anästhesie verlief bei ihnen ohne Komplikationen.»
Es gebe keine empirischen Studien, die beweisen, welchen Einfluss das Williams-Beurer Syndrom auf das Risiko einer OP bei Babys hätten.
«Operation war richtig»
Zur Operation, bei der Ali verstarb, habe sich sein Mandant gar nie äussern können. Er sei in die Vorbereitung und in die Entscheidung nicht involviert gewesen. Dennoch: «Die Operation war richtig», sagt der Anwalt des Kardiologen.
Richterin will nachlesen
Die Gerichtspräsidentin nimmt einen Ordner hervor. Sie sucht etwas in den Gerichtsakten. Währenddessen referiert der Verteidiger weiter. Es geht immer noch darum, dass sein Mandant nichts von der genetischen Vorerkrankung des Opfers wusste.
Plötzlich ist da das Gesicht des kleinen Ali* (†10 Wochen). Er ist blass, wirkt zerbrechlich. Das Foto, aufgenommen nach seinem Tod, wird auf den Bildschirm projiziert. Mitten im Gerichtssaal – und vor den Augen des Kindsvaters, der mit seinen Gefühlen ringt.
Vor dem Luzerner Kriminalgericht stehen am Mittwoch Alis Ärzte: seine Kinderchirurgin, der Kinderkardiologe und Anästhesist. Sie wirken gepflegt, besonnen. Doch der Schein trügt.
Betroffene Angeklagte
«Mein Mandant hat sich ernsthaft überlegt, seinen Job an den Nagel zu hängen», sagt der Verteidiger des Anästhesisten vor Gericht. Der Kinderkardiologe trägt ein emotionales Statement vor: «Ich hatte unzählige schlaflose Nächte.» Und die Kinderchirurgin bezeichnet Alis Tod als Tragödie.
Was ist genau passiert? Ali kommt im November 2021 zur Welt. Er leidet an einem Herzfehler, hat Kleinwuchs. Seine Auffälligkeiten passen zum Williams-Beuren-Syndrom. Eine genetische Untersuchung soll Klarheit verschaffen.
Doch bevor diese stattfindet, setzt die angeklagte Kinderchirurgin eine Leistenoperation an. Jene Operation, bei der Ali sterben wird.
Und hier liegt der erste Streitpunkt: Kinder mit dem Williams-Beuren-Syndrom haben ein erhöhtes Risiko auf Komplikationen bei der Narkose. Die Staatsanwaltschaft argumentiert, man hätte mit der Leistenoperation warten sollen, bis die Diagnose bestätigt wurde. Es sei kein dringender Eingriff gewesen. Die Verteidigung hält dagegen, stuft die Dringlichkeit als hoch ein.
Reanimation nötig
Am Tag der Operation verabreicht der Anästhesist dem kleinen Ali ein gängiges Narkosemedikament mittels Einatmen. Der Kreislauf des kleinen Buben bricht zusammen. Die Ärzte müssen ihn reanimieren. Er überlebt.
Der zweite Streitpunkt dreht sich um die Entscheidung, die Operation nach diesem ersten Kreislaufkollaps fortzuführen. Der Anwalt von Alis Eltern argumentiert, es sei doch gesunder Menschenverstand, eine Operation nach einem derart kritischen Moment zu unterbrechen. Einer der Gutachter, der als Zeuge geladen ist, unterstützt das Argument: «Ich hätte das Kind auf der Intensivstation beobachtet und die Zeit genutzt, um noch einmal die Befunde durchzugehen.»
Denn die beschuldigten Ärzte wussten nichts vom Verdacht auf das Williams-Beuren-Syndrom. Das bestätigen die Angeklagten in ihren Statements. «Doch selbst wenn ich es gewusst hätte, hätte es Gründe gegeben, die Operation mit der gleichen Narkosemethode weiterzuführen», sagt der Anästhesist in seinem Statement.
Konkrete Fragen beantworten will er nicht. Ebenso die beiden anderen Beschuldigten. Der Kinderkardiologe erzählt, er sei nach dem Vorfall in ein tiefes Loch gefallen. Doch medizinisch hätten er und seine Kollegen keinen Fehler gemacht: «Ich würde dem Anästhesisten meine eigenen Kinder anvertrauen!»
Gutachten gegen Gutachten
Die Kinderchirurgin ringt mit den Tränen, entschuldigt sich bei Alis Eltern. Doch auch sie betont, alles richtig gemacht zu haben.
Doch wer hat nun recht? Alle – und niemand. Die Ankläger und Verteidiger stützen sich auf unterschiedliche Gutachten, die Unterschiedliches aussagen. Die Staatsanwaltschaft bezieht sich auf die Analyse des Rechtsmedizinischen Instituts Zürich. Die Verteidiger auf mehrere privat erstellte Gutachten.
Nach etwa 6 Stunden Verhandlung beendet die Gerichtspräsidentin den ersten Verhandlungstag. Morgen folgen noch die Plädoyers von zwei Verteidigern. Doch schon jetzt ist spürbar, wie schmal der Grat zwischen medizinischer Verantwortung und Schicksal sein kann.
* Name geändert