Darum gehts
- Zwei Ärztinnen stehen wegen mutmasslicher fahrlässiger Tötung vor Gericht in Visp
- Alarmierender Befund einer erweiterten Aorta wurde von Ärzten übersehen
- Bei korrekter Diagnose hätte Überlebenschance zwischen 80 und 86 Prozent gelegen
Es ist ein Prozess, wie er nicht so oft vorkommt. Ab heute Mittwoch stehen in Visp VS gleich zwei Ärztinnen vor Gericht. Helena I.* (56) und Noelle V.* (51) sollen für den Tod eines Menschen verantwortlich sein.
Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: mutmassliche fahrlässige Tötung und Urkundenfälschung. Das Opfer: Alain Guntern (†48).
Mehr als nur Apotheker
Es war eine dieser Todesnachrichten, die in der Region für einen Schock sorgten. Im September 2020 starb Alain Guntern ganz unvermittelt an einer Aortendissektion, mit gerade einmal 48 Jahren. Guntern war in der Region wohlbekannt. Er führte zwei Apotheken in Brig-Glis VS, war Präsident des örtlichen Gewerbevereins. Er setzte sich für die Belebung der Innenstadt ein.
Seit 2018 präsidierte er zudem die Walliser Apothekervereinigung. Guntern war treibende Kraft des Westschweizer Apothekerkongresses, engagierte sich in der Nachwuchsausbildung. Er setzte sich als Unternehmer und Verbandspräsident für freie und unabhängige Apotheken ein.
Auch sonst war der dreifache Familienvater sehr engagiert. Zum Beispiel in der Stiftung Stockalperschloss oder bei der Stiftung Emera, einer Organisation für Menschen mit Behinderungen. Der «Walliser Bote» würdigte Guntern mit einem grossen Nachruf.
Alarmierenden Befund übersehen
Fünf Jahre später ist der Tod von Alain Guntern nun ein Fall für die Justiz. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass es bei der Behandlung von Guntern zu schweren Versäumnissen gekommen ist.
Laut Anklageschrift (sie liegt Blick vor) suchte der bis dahin gesunde Guntern die Notfallstation des Spitals Visp wegen plötzlich einsetzender, extrem starker Kopf- und Brustschmerzen auf. Die Schmerzen waren so stark, dass dem 48-Jährigen die Tränen übers Gesicht liefen.
Obwohl die Symptome und die Familiengeschichte des Patienten (sein Vater hatte ein Aorten-Aneurysma) deutliche Warnzeichen für einen Riss der Hauptschlagader (Aortendissektion) waren, wurde diese lebensbedrohliche Diagnose von der zuständigen Notfallärztin Helena I. nicht in Betracht gezogen.
Ein durchgeführtes Lungen-CT zeigte eine massiv erweiterte Aorta von 69 mm (normal sind weniger als 35 mm) – ein alarmierender Befund. Gemäss Anklageschrift wurde diese Information jedoch sowohl von der Notfallärztin als auch von der diensthabenden Radiologin, Noelle V., ignoriert und im ersten Befund nicht erwähnt. Basierend auf einer Fehldiagnose wurde Alain Guntern auf eine normale Bettenstation ohne besondere Überwachung verlegt, wo er am nächsten Morgen leblos aufgefunden wurde. Fast eine Stunde wurde versucht, den Patienten wiederzubeleben. Erfolglos.
Fehler vertuscht?
Doch damit nicht genug. Die Staatsanwaltschaft wirft Noelle V. vor, versucht zu haben, ihren Fehler zu vertuschen. V. soll demnach am Todestag von Alain Guntern den ursprünglichen, unauffälligen Kurzbefund im Computersystem gelöscht und durch einen neuen, auf den Vortag rückdatierten Schlussbericht ersetzt haben, in dem die Aortenerweiterung plötzlich erwähnt wurde. Offenbar, um zu verschleiern, dass die kritische Gefässerweiterung erst nachträglich festgestellt wurde. Ein mutmasslicher Fall von Urkundenfälschung.
Besonders tragisch: Die Anklageschrift schliesst mit der Feststellung, dass «bei korrekter und zeitnaher Diagnose die Überlebenschance von Alain Guntern zwischen 80 und 86 Prozent betragen hätte».
Die Witwe von Alain Guntern wollte sich gegenüber Blick nicht zum anstehenden Prozess äussern. Auch Anfragen an die beiden beschuldigten Medizinerinnen blieben unbeantwortet. Für sie gilt die Unschuldsvermutung.
Blick berichtet heute ab 9 Uhr live vom Prozess in Visp.
* Namen geändert