Sie ist eines der Gaza-Kinder in der Schweiz
Das erschütternde Tagebuch von Layla

Der Bund holte das schwer verletzte Mädchen vor zwei Wochen in die Schweiz. Blick zeichnet seinen Leidensweg nach. Die Geschichte eines Gaza-Kindes, das im Krieg fast alles verlor – und zum Politikum wurde.
Publiziert: 20:01 Uhr
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Aktualisiert: vor 5 Minuten
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Vor zwei Wochen wurden Layla* und ihre Mutter mit einem Rega-Jet nach Zürich geflogen.
Foto: keystone-sda.ch
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Fabian EberhardStv. Chefredaktor SonntagsBlick

Die Schweiz streitet über die Kinder aus Gaza – aber wer sind sie? Kriegsopfer, sagt der Bund. Ein Sicherheitsrisiko, warnen bürgerliche Politiker. Die 20 Buben und Mädchen, die mit Rega-Jets in Schweizer Spitäler ausgeflogen werden, sind zum Politikum geworden. Dabei ist kaum etwas über sie bekannt.

Ihre Geschichten, ihr Leiden – all das bleibt abstrakt. Um begreifbar zu machen, wer diese Kinder sind, gibt Blick einem von ihnen ein Gesicht. Gestützt auf Tagebucheinträge, Fotos und Videos im Internet lässt sich das Schicksal eines Mädchens und seiner Familie rekonstruieren, obwohl die Behörden die Identität geheim halten und Kontaktversuche mit der Mutter fehlschlugen. Zum Schutz der Betroffenen wurden Gesichter anonymisiert und Namen geändert.

Die Geschichte der schwer verletzten Layla* (2) beginnt im Sommer 2024, als israelische Raketen das Haus ihrer Familie in Gaza-Stadt treffen. Und sie endet fürs Erste in einem Schweizer Spital.

Vater und Geschwister getötet

Laylas Familie, das waren einmal: der Vater, die Mutter, ihre zwei Schwestern und ihre beiden Brüder. Bei der Ankunft am Flughafen Zürich vor zwei Wochen war nur die Mutter dabei. Alle anderen verloren ihr Leben im Krieg.

In Zürich bleiben können Mutter und Tochter nicht. Der Regierungsrat hat sich gegen die Aufnahme von Gaza-Kindern ausgesprochen. Denn es bestünden «erhebliche Sicherheitsbedenken». Eine Verbindung der Evakuierten mit der Terrororganisation Hamas könne nicht ausgeschlossen werden. Eine Aufnahme bringe «nicht kalkulierbare Risiken» mit sich.

«Wir haben alles verloren»

In welchem Kanton Layla und ihre Mutter derzeit untergebracht sind, ist unklar. Basel-Stadt zum Beispiel nahm vier Gaza-Kinder und ihre Begleitpersonen auf. «Unsere humanitäre Tradition als Schweiz verpflichtet uns, einen Beitrag zu leisten», sagt Kaspar Sutter, Vorsteher des Departements für Wirtschaft, Soziales und Umwelt.

Recherche-Hinweise

Haben Sie Hinweise zu brisanten Geschichten? Schreiben Sie uns: recherche@ringier.ch

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Layla war knapp ein halbes Jahr alt, als die Hamas Israel überfiel und mehr als 1000 Jüdinnen und Juden ermordete. Und als Israel zurückschlug und damit begann, den Gazastreifen in ein Trümmerfeld zu bomben.

Der Vater der Familie, später auch die Mutter, berichteten auf einer Website von ihrem Schicksal. Und baten um Spenden. Dort steht: «Wir haben alles verloren. Es fühlt sich an, als hätte das Leben die Türen für uns geschlossen.»

Blick veröffentlicht Auszüge aus dem Tagebuch. Ein Grossteil davon liess sich durch Fotos und mit weiteren Quellen verifizieren. Einzelne Details konnten nicht überprüft werden.

13. August 2024: Die Flucht

«Nach der Zerstörung unseres Traumhauses ist das Leben schwierig geworden», schreibt Laylas mittlerweile verstorbener Vater auf der Spendenwebsite. Die Familie ist in den Süden des Gazastreifens geflohen, wo sie in einem Zelt lebt. Doch auch dort ist sie nicht sicher.

15. August 2024: Die Raketen

«Heute wurde das Haus neben uns angegriffen. Granatsplitter fielen auf unser Zelt. Ohne Gottes Hilfe wären wir verletzt oder tot.»

In den darauffolgenden Monaten gibt Laylas Vater regelmässig Updates aus dem Kriegsgebiet. Er schreibt, wie es immer schwieriger wird, an Essen, Trinken und Medikamente zu kommen. Aufgrund der prekären Lage leide die kleine Layla immer wieder an schweren Magen-Darm-Krankheiten. Manchmal esse sie tagelang nichts. Im Oktober infiziert sie sich gemäss Tagebuch mit der Lebererkrankung Hepatitis A.

Dezember 2024: Die Kälte

Die Nächte werden kälter, der Hunger quälender. Wie der Vater schreibt, reichen die Grundnahrungsmittel kaum noch aus. Er bittet erneut um Spenden. «Uns fehlt die nötige Winterkleidung, um uns zu wärmen. Der Krieg hat uns alles genommen.» In der Nacht fällt die Temperatur jetzt unter 10 Grad. Fotos zeigen Layla mit Sandalen und rosa Kapuzenpullover.

Januar 2025: Die Rückkehr

Die Familie kehrt nach Gaza-Stadt zurück. Von ihrem früheren Haus ist nichts mehr übrig. «Die Zerstörung ist unbeschreiblich. Wir haben kein Dach über dem Kopf, sind obdachlos.»

5. April 2025: Explodierende Preise

Frühling. «Wir können uns nicht einmal mehr Mehl für unsere Familie leisten. Unsere Kinder gehen hungrig schlafen. Unsere Herzen sind voller Trauer und Hilflosigkeit.»

Spätestens ab Mai mehren sich Berichte von internationalen Organisationen und Augenzeugen über den Hunger im Gazastreifen. Die Lage verschärft sich wöchentlich, Kinder sind besonders stark betroffen. Laut dem Uno-Kinderhilfswerk Unicef wurde im Spätsommer bei jedem fünften Kind in Gaza-Stadt akute Mangelernährung festgestellt. Israel wies diese Darstellung stets zurück.

30. Mai 2025: Der Hunger

«Meine kleine Tochter weint jeden Tag – nicht weil sie krank oder ängstlich ist, sondern weil sie Hunger hat. Sie träumt von einem Stück Brot, einem kleinen Stück Obst oder nur einem Schluck Milch. Ich sitze hilflos vor ihr und wünschte, ich könnte ihr mein Herz schenken, wenn es nur ihren kleinen Magen füllen würde.»

23. Juli 2025: Der Angriff

Bei einem Raketenangriff verliert Layla ihren Vater und ihre vier Geschwister. Sie selbst wird schwer verletzt. Nun führt die Mutter das Tagebuch. Sie schreibt: «Ich erlitt Verletzungen am ganzen Körper und verlor Teile der Fingerknochen.» Sie postet ein Foto von fünf Leichensäcken. Auch Layla trifft es schlimm. Ihr Bein ist übel zugerichtet, der Oberschenkelknochen zersplittert. Gewebe und Haut fehlen. Sie braucht dringend eine Operation – im Kriegsgebiet unmöglich.

«Wir krochen unter den Trümmern hervor»

Die Ereignisse an diesem Tag schildert Laylas Mutter auch in einem Video der Weltgesundheitsorganisation (WHO), das Blick vorliegt. «Layla und ich krochen unter den Trümmern hervor», sagt sie. Die Kleine könne nicht mehr laufen und sei durch die Ereignisse stark traumatisiert. Dann die erlösende Nachricht: «Sie riefen uns an und teilten uns mit, dass Layla die Genehmigung für die Reise in die Schweiz erhalten hat. Hoffentlich wird sie bald wieder die Layla sein, die wir kennen.»

Die WHO hat rund 20'000 Zivilistinnen und Zivilisten für eine Bergung aus dem Gazastreifen registriert – darunter 4000 Kinder. Mehrere Staaten werden aktiv. Die rechtsnationale italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni lässt Kinder aus dem Gazastreifen einfliegen. Grossbritanniens Labour-Regierung tut es ihr gleich. Mehr als 5000 verletzte Buben und Mädchen konnten dadurch bereits aus dem Kampfgebiet gebracht werden. Die WHO berichtet aber auch: 140 starben, während sie auf Hilfe warteten.

Die Gaza-Kinder werden zum Politikum

In der Schweiz lösen die Pläne zur Aufnahme von 20 Gaza-Kindern eine heftige Debatte aus. Mehrere Kantone, darunter Zürich, Bern und Aargau, weigern sich. Auch weil sie die Kosten für die medizinische Behandlung selbst übernehmen müssten. Für Kritik an der vom Bund eingefädelten Hilfsaktion sorgt zudem, dass die Kinder von bis zu vier Familienangehörigen begleitet werden, die in der Schweiz Asyl beantragen dürfen.

Am 24. Oktober landen die ersten sieben Kinder aus Gaza in der Schweiz. Unter ihnen ist auch Layla. Der Bund informiert an einer Medienkonferenz über Details der Aktion. Alle eingeflogenen Kinder hätten gravierende Kriegsverletzungen erlitten, eines von ihnen den Schuss aus einem Sniper-Gewehr durch das Wadenbein.

3. November 2025: Die Rettung

Der vorerst letzte Tagebucheintrag. Laylas Mutter meldet sich aus einem Spital in der Schweiz. Fotos zeigen die Zweijährige im Minnie-Maus-Pyjama. Ein Stofftier von Micky Maus trug sie auch bei sich, als sie nach dem Raketenangriff im Juli auf einer Pritsche in einem Spital in Gaza lag, das Bein behelfsmässig zusammengeflickt. Die Mutter äussert einen letzten Wunsch: Sie hoffe, dass Layla wieder gesund wird. Und ihre verlorene Kindheit zurückbekommt.

* Name geändert

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