Opfer auch in Schweizer Spital
US-Ärzte berichten von gezielten Schüssen auf Kinder in Gaza

Eines der evakuierten palästinensischen Kinder in der Schweiz hat eine Scharfschützen-Schusswunde. Das ist offenbar kein Einzelfall.
Publiziert: 00:00 Uhr
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Eines der sieben Kinder, das der Bund kürzlich aus Gaza evakuierte, weist eine Sniper-Schussverletzung auf.
Foto: keystone-sda.ch

Darum gehts

  • Die Schweiz hat ein Kind mit Sniper-Schussverletzung aus dem Gazastreifen aufgenommen.
  • Amerikanische Ärzte berichten von gezielten Schüssen auf Kinder im Gazastreifen
  • 44 von 53 befragten US-Medizinern sahen Kinder mit Schusswunden im Kopf/Brustkorb
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Rebecca WyssRedaktorin SonntagsBlick

Der Satz an der Medienkonferenz zur Evakuierungsaktion der Gaza-Kinder kam beiläufig daher, ein Nebensatz in einer Aufzählung, aus dem Mund des operativen Leiters. Doch er hatte es in sich: «Eines erlitt einen Sniper-Schuss durchs Wadenbein.» Gemeint ist eines der sieben Kinder, noch nicht mal zehn Jahre alt, die derzeit in Schweizer Spitälern behandelt werden. 

Mehr zum Kind, den Umständen, erfuhr man nicht. Und mehr sagt das Staatssekretariat für Migration (SEM) aus Persönlichkeitsschutzgründen auch auf Anfrage nicht. Einzig dies: Die Information zum Sniper-Schuss stammt von der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die SEM-Sprecherin schreibt: «Medizinische Informationen haben wir den Patientendossiers entnommen, welche von der WHO übermittelt wurden.» Diese hat bis Redaktionsschluss nicht auf unsere Anfrage reagiert.

Wie kann es sein, dass ein Scharfschütze ein Kind trifft? Ein Mensch, dessen Job es ist, über weite Distanzen Menschen zu töten, präzise. Ist das möglich?

Ärzte schlagen Alarm

Berichte von Ärzten zeigen: Ja. Das palästinensische Kind mit dem Wadenschuss ist – sofern die WHO-Information stimmt – eines von vielen.

Am 7. Oktober 2023 hat die Hamas den Süden Israels überfallen. Die Männer vergewaltigten Frauen und verschleppten Geiseln. Und mordeten ungebremst. Allein an jenem Tag im Oktober töteten die Terroristen 1200 Israelis – der grösste Massenmord an Juden seit dem Holocaust. Wahr ist auch: Der Krieg, der folgte, und nun in einen brüchigen Waffenstillstand gemündet hat, fordert massenhaft palästinensische Opfer. Über 75'000 schätzt das Royal Holloway College der Universität London in einer Studie, davon die Hälfte Frauen und Kinder. Kinder mit schweren Schussverletzungen. Amerikanische Ärzte, die im Gazastreifen im Einsatz waren, schlagen deshalb seit vergangenem Jahr öffentlich Alarm.

Die Krankenschwester sagte nur: «Shot, shot»

Einer von ihnen ist Mark Perlmutter, ein jüdisch-amerikanischer Orthopäde aus dem US-Bundesstaat North Carolina. Im März 2024 flog er für einen Kurzeinsatz nach Israel. Er hatte erfahren, dass es im Gazastreifen an Ärzten wie ihm fehlte, er wollte helfen. Das Einzige, was er über den Ort wusste: Fast 50 Prozent der Bevölkerung auf dem Gebiet bestehen aus Kindern. Und das ist seine Spezialität, wie er Blick auf Anfrage schreibt: «Kinder operieren.» 

Im Gazastreifen angekommen traf er bald auf einen Landsmann von ihm: Feroze Sidhwa, ein kalifornischer Unfallchirurg mit pakistanischen Wurzeln. Die beiden wurden zum Europäischen Spital in Chan Yunis gefahren. Schon auf dem ersten Rundgang durch das Haus erfuhren sie, was auf sie zukommen würde – und was sie zuvor noch nie erlebt hatten. US-Journalisten des Magazins «Politico», der Zeitung «New York Times», und des Podcasts «This American Life» haben darüber berichtet.

Die Krankenschwester, die Perlmutter und Sidhwa auf dem Rundgang herumführte, sprach kaum Englisch. Als sie an zwei Kindern vorbeikamen, deutete sie auf deren Kopf und sagte nur: «Shot, shot» (angeschossen, angeschossen). Das Gleiche wiederholte sie bei zwei weiteren Kindern. Feroze Sidhwa glaubte erst, sie irre sich, wie er gegenüber «This American Life» sagte. Er glaubte an eine Wunde durch Splitter, durch eine Explosion. Doch als er sich die Röntgenaufnahmen von den Kindern anschaute, sah er: Kopfschüsse. 

Zwei Kinder hatten Schusswunden in Kopf und Brustkorb

Das war erst der Anfang. So ging das jeden Tag während zweier Wochen, in denen die beiden Ärzte im Spital schwer verletzte Kinder operierten.

Der Orthopäde Mark Perlmutter erinnert sich noch genau an den Tag, an dem zwei etwa sechsjährige Buben mit Schusswunden eingeliefert wurden – bei beiden an Kopf und Brustkorb. Er weiss noch genau, wie er das Hemd des einen Jungen aufriss, und eine Kugeleintrittswunde direkt über dem Herzen feststellte. Und als er die Verbände über der Stirn des Kindes hob, sah er, dass eine zweite Kugel direkt bei seinem linken Ohrloch eingedrungen und durch seinen Hals wieder ausgetreten sein musste. 

Diese Bilder wird er bis heute nicht mehr los.

Am Ende ihres Einsatzes hatten Perlmutter und Sidhwa 13 Kinder mit mindestens einer Kopfschusswunde gezählt. Die allermeisten hatten nicht überlebt.

Zurück in den USA starteten die beiden eine Umfrage unter amerikanischen Ärzten und Pflegefachleuten, die im Gazastreifen im Einsatz gewesen waren. 44 der 53 Befragten gaben an, sie hätten Kinder mit Schusswunden in Kopf und/oder Brustkorb gesehen. Von manchen gibt es Röntgenaufnahmen und Fotos.

Die Ärzte schrieben daraufhin gemeinsam einen Brief an den damaligen US-Präsidenten Joe Biden. Sie wollten eine Untersuchung. Einen Stopp der US-Waffenlieferungen nach Israel. Doch nichts passierte, niemand hörte sie an.

Arzt vermutet Sniper-Schüsse

Die Frage bleibt: Wie kam es zu diesen Schusswunden?

Laut Mark Perlmutter und Feroze Sidhwa schilderten Familienmitglieder der Kinder damals im Spital jeweils einen ähnlichen Hergang: Die Kinder spielten drinnen, als sie von israelischen Streitkräften angeschossen wurden, oder sie spielten auf der Strasse, als sie von diesen angeschossen wurden.

Der Orthopäde Mark Perlmutter sagt zudem, die Kinder mit Kopf- und Brustschusswunden, die er behandelt hat, müssten gezielt ins Visier genommen worden sein. «Das ist kein Unfall.» Kein Scharfschütze erwische ein Kind versehentlich zweimal.

Dazu würde ein aktueller Fall passen. Gerade sorgte die Erschiessung eines zehnjährigen Palästinenserkindes im Westjordanland für Aufsehen.

Zeugen sagten der BBC, dass der Junge und seine Freunde auf einem Pausenplatz Fussball gespielt hatten, als sie israelische Militärfahrzeuge sahen und daraufhin begannen, wegzulaufen. Die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) sagen gegenüber dem Fernsehsender, die Buben hätten mit Steinen geworfen und die Soldaten hätten das Feuer eröffnet. Der Vorfall werde untersucht.

Anders die Vorwürfe von Mark Perlmutter und seinen Kollegen. Die IDF weisen sie von sich. Ihr Statement gegenüber Medien: «Die IDF zielt nicht auf Minderjährige ab und trifft umfangreiche Massnahmen, um Schaden für Zivilisten, einschliesslich Kinder, zu verhindern. Die IDF ist der Minderung ziviler Schäden verpflichtet und handelt in voller Übereinstimmung mit internationalen rechtlichen Verpflichtungen.»

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