Darum gehts
An den Tag, an dem ihr Bruder Tobias geboren wurde, erinnert sich Rebecca Baumgartner (40) gut. Dreijährig war sie und traurig, weil sie gerade ihren liebsten Bärchenteller zerschlagen hatte. Ihr Vater war soeben aus dem Spital zurückgekehrt. «Er sagte, das mit dem Teller mache nichts, es gebe noch anderes.» Anderes – wie die Diagnose Down-Syndrom, die ihre Eltern soeben für ihr zweites Kind erhalten hatten.
Was bedeutet es für einen Menschen, wenn seine Schwester oder sein Bruder beeinträchtigt ist? Was fördert oder hindert seine eigene Entwicklung in der Kindheit? Erstmals haben Forschende solche Fragen für die Schweiz systematisch untersucht. Die Resultate der sogenannten Geschwisterstudie zeigen, dass Geschwister Betreuungsaufgaben übernehmen, was sowohl bereichernd als auch belastend sein kann. Im Vergleich mit Kindern in ganz Europa stellt die Studie ein tieferes psychisches Wohlbefinden der gesunden Geschwister fest.
Fremde Kinder gaffen
Rebecca Baumgartner hat Glück. Sie erlebt ihre Kindheit und Jugend als zufrieden und stimmig. Der Vater ist Heilpädagoge und an einer Heilpädagogischen Schule ganz in der Nähe tätig, die Mutter ist Handarbeits- und Hauswirtschaftslehrerin. Schon vor der Geburt ihres Bruders geht die kleine Rebecca am Arbeitsplatz des Vaters ein und aus und empfindet die Begegnungen mit Kindern mit Beeinträchtigungen als alltäglich.
Es sind die Reaktionen fremder Kinder, die ihr zeigen, dass mit Tobias etwas ist. Sie glotzen, sie tuscheln. «In diesen Momenten habe ich gemerkt, dass mein Bruder anders ist. Ich mochte es überhaupt nicht, wenn sie so starrten – und habe es auch nicht verstanden.» Sie streckte ihnen die Zunge raus – «das machte ich wirklich häufig», sagt sie und lacht verschmitzt. Einem Buben, der ihren Bruder im Kinderwagen gehauen hatte, biss sie als Rache in den Finger.
Bis heute wehrt sie sich für Tobias, für Menschen mit Beeinträchtigungen, für die Schwächeren. Ein Beispiel: Sie konfrontierte in der Badi grinsende, Sprüche klopfende Teenager, die sich über Tobias mokierten. «Selbst solche Gruppen werden ganz schnell kleinlaut, wenn man sie zur Rede stellt und ihnen klarmacht, dass es nicht in Ordnung ist, sich über Menschen mit Beeinträchtigungen lustig zu machen.»
Untersuchungen zeigen, dass sich Geschwister von beeinträchtigten Menschen als besonders sozial orientierte Menschen wahrnehmen und vielfach einen sozialen Beruf wählen. So auch Rebecca Baumgartner: Sie hat sich zur Schulischen Heilpädagogin ausgebildet.
Die Familie steckt zurück
Ihre Kindheit und Jugend beschreibt sie als glücklich. Die Familie, eine eng verbundene Gemeinschaft. Ihr Zuhause, oft gefüllt mit anderen Kindern, die zum Spielen kamen. In die Ferien durfte sie regelmässig zu Verwandten, und mittags, wenn Tobias in der Heilpädagogischen Schule blieb, hatte sie ihre Mutter ganz für sich allein. Anders als anderen Geschwisterkindern fehlte es ihr nicht an Unterstützung und Bezugspersonen.
Trotzdem: «Natürlich passten wir uns meinem Bruder an.» Spaziergänge statt Wanderungen, Ferien in Europa statt in exotischen Ländern. «Wir haben zurückgesteckt. Aber das passte so für mich», sagt sie. Sie selbst suchte die Aufmerksamkeit der Eltern nicht speziell, war brav und rebellierte auch in der Pubertät nicht. Baumgartner sagt: «Das Aufwachsen mit meinem Bruder hat mich geprägt. Manchmal merke ich, dass ich lernen muss, auch mal nur für mich zu schauen.»
Während andere Kinder es als belastend empfinden, wenn sich ihr Geschwister zum Beispiel in der Öffentlichkeit auffällig verhält oder sie zu wenig Informationen über dessen Gesundheitszustand bekommen, war Rebecca von solchen Themen kaum berührt. Anders als andere Menschen mit Down-Syndrom hat ihr Bruder keinen Herzfehler oder andere zusätzliche medizinische Befunde. Gesundheitliche Sorgen gab es in der Familie daher kaum. Ihre Situation als sogenanntes Schattenkind hat Rebecca Baumgartner trotzdem beschäftigt: Sie hat sowohl ihre Matura- als auch ihre Masterarbeit dem Thema Geschwister von Menschen mit Beeinträchtigungen gewidmet.
Er interessiert sich für Autos
Der heute 37-jährige Tobias Baumgartner wohnt weiterhin bei den Eltern, fährt Velo, reist selbständig mit dem Bus, arbeitet in einer geschützten Werkstatt, interessiert sich für Autos und hat eine Kopfhörersammlung. Er mag Strukturen und Rituale, beschäftigt sich selbst und stört nicht. Er nutzt auch ein Smartphone: Mit Angehörigen kommuniziert er über Emojis oder Fotos, selten auch mit einer Sprachnachricht. Sein Leseniveau ist tief, und mit dem Artikulieren hat er Mühe. «Für Aussenstehende ist es schwer, Tobias zu verstehen, wenn er spricht», sagt Rebecca Baumgartner.
Für sie ist es selbstverständlich, dass ihr Bruder bei Aktivitäten dabei ist. Sie nimmt ihn mit zum Schwimmen, an ein Fussballspiel, in die Pizzeria. «Mein Bruder wird immer bei mir sein», sagte sie gleich zu Beginn der Beziehung zu ihrem Freund und heutigen Ehemann. Dass Tobias später mal bei Rebecca Baumgartners eigener Familie einziehen könnte, ist für sie klar. «Da sehe ich mich auch ein Stück weit in der Pflicht.»
So eng die Beziehung ist: «Was wir als Geschwister nie werden teilen können: dass er heiratet, Vater wird. Das macht mich wehmütig.»
Und etwas hat sie beim Aufwachsen vermisst: «Wir konnten nie ein Geheimnis haben miteinander.» Einmal probierte sie es doch: Als 16-Jährige schwor sie ihn auf Verschwiegenheit ein, damals, als ihr Freund in Abwesenheit der Eltern das erste Mal zu Besuch kam. Tobias verriet tatsächlich nichts über den Männerbesuch. Aber er sagte der Mutter, es sei ein Smart vor dem Haus gestanden. Und damit flog das Geheimnis auf.