Darum gehts
- Raphael M. tötete erneut trotz Therapie. Behörden gerieten in die Kritik
- M. verbarg seine Pläne und wahnhafte Nebenrealität jahrelang vor Betreuern
- Über 100 unauffällige Freigänge vor erneutem Mord am selben Tatort
Urteil am Freitag
Das Gericht wird das Urteil am Freitag um 11 Uhr verkünden.
Letztes Wort
Der Richter gibt Raphael M. das letzte Wort. Er sagt: «Ich wiederhole mich: Es tut mir leid, was ich diesen Familien angetan habe.»
«Herr M. ist ein Werkzeug seiner Krankheit»
Jetzt ergreift der Verteidiger von M. das Wort.
Er hält gleich zu Beginn fest: «Sein Verhalten wirkt geplant und eiskalt. Es ist aber seiner Wahnwelt geschuldet.» Und: «Die Tötung zeige die Abgründe seiner Krankheit.»
Weiter erklärt der Verteidiger, M. habe unter dem «Diktat seiner Wahnwelt» gehandelt. «Sie verlangt sein Handeln alternativlos. Herr M. ist ein Werkzeug seiner Krankheit.»
Während seines Plädoyers macht der Verteidiger klar, wie persönlich Raphael M. Botschaften aufnehme. Er nimmt eine Werbung hervor und sagt: «Für uns alle ist klar, dass das eine Werbung ist. Nicht aber für Raphael M. Er wollte mit seinen Eltern, seinen Betreuern und mit mir darüber sprechen. Er verstand es als direkte Botschaft an ihn.»
Auch der Gutachter habe gezeigt, wie die Krankheit Herrn M. verändert habe, so der Verteidiger.
Prozess geht weiter
Die Verhandlung geht weiter. Raphael M. wird wieder in den Saal geführt und ihm werden die Handschellen abgenommen.
Kleine Auszeit
Nun folgen 15 Minuten Pause.
Opferanwalt glaubt Raphael M. kein Wort
Jetzt spricht der Opferanwalt. Er glaubt Raphael M. kein Wort, dass er quasi nach zehn Jahren als Korrektur-Handlung in seinem Wahn Assunta L. getötet hat. Der Opferanwalt glaubt, dass die Auslöser für beide Tötungsdelikte «Nachbarschaftsstreitigkeiten» waren. Der Opferanwalt: «In beiden Fällen waren die Opfer Personen, die mit dem Vater Streit hatten.»
Der Opferanwalt findet, die Staatsanwaltschaft sollte mehr hinterfragen. Und bringt dann alte Akten ins Spiel. So wurde nach dem ersten Mord 2014 ein Streit in der Waschküche der Nachbarn zum Thema. Damals ging die Staatsanwaltschaft davon aus, dass dieser Streit mit der Tat zusammenhängt. Auch beim neuesten Vorfall gab es eine Diskussion unter den Nachbarn wegen eines Kellerabteils.
Was fordert der Staatsanwalt?
Schliesslich setzt sich der Staatsanwalt damit auseinander, ob eine weitere stationäre Massnahme oder eine Verwahrung ausgesprochen werden soll.
Er setzt sich tiefergehend mit dem Gutachten von Habermeyer auseinander, die Raphael M. eine ungünstige Prognose in der Therapierbarkeit ausstellt.
«Es ist unwahrscheinlich, dass der Beschuldigte in fünf Jahren kontrollierbar ist», sagt der Staatsanwalt. Für die stationäre Massnahme müsse zumindest ein Erfolg in der Therapierbarkeit vorliegen. Doch dem sei nicht so. Also falle eine stationäre Massnahme weg.
Der Staatsanwalt fordert die Verwahrung.
Brisant: Der Staatsanwalt erwähnt während seines Plädoyers, dass Raphael M. sich in seiner Wahnwelt als Arthur bezeichnet. Er verweist damit auf die Videospiele, die Raphael M. gerne spielte – auch während seiner stationären Massnahme. Der Staatsanwalt findet, dass Raphael M. in seinem Tatvorgehen das Verhalten aus der ihm bekannten Gamingwelt kopiert.
Staatsanwalt hat das Wort
Jetzt beginnt der Staatsanwalt mit seinem Plädoyer. Zuerst richtet er sein Wort an die Opfer-Familie: «Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen.»
Er erklärt, die Familie seien «Opfer des Systems geworden, das von der Gesellschaft erschaffen» wurde.
Auch der Staatsanwalt erklärt: «Der Fall war nicht zu verhindern.»
Es sei für die Therapeuten schwierig gewesen, die versteckte Parallelwelt zu erkennen. Das liege unter anderem an Raphael M., der nicht offen über sein Warnsystem spricht. Aber wohl auch daran, dass es ihm die Wesen aus seiner Parallelwelt verbieten, darüber zu sprechen.
«Es tut mir leid, dass ich so viele Familien traurig gemacht habe»
Der Richter fragt, ob noch jemand Fragen an Raphael M. hat. Das wird verneint. Dann fragt er den Angeklagten, ob er noch etwas sagen möchte. Raphael M. räuspert sich, wartet. Räuspert sich wieder. Dann sagt er: «Es tut mir leid, dass ich so viele Familien traurig gemacht habe.»
Handfesseln weg
Die Verhandlung wird am Nachmittag weitergeführt. Raphael M. wird in den Saal geführt. Ihm werden die Handfesseln abgenommen.
Vom Killer zum Musterpatienten und wieder zurück: Der Schweizer Raphael M.* (33) tötete 2014 zwei Frauen und verletzte einen Mann schwer. Wegen seiner Schizophrenie kassierte er 2015 die kleine Verwahrung. Heisst: Statt in ein Gefängnis kam M. für eine stationäre Massnahme in die Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel.
Dort entwickelte sich Raphael M. zum Vorzeige-Insassen. In seinen Akten wird M. als «sozial verträglich» und «ausgeglichen» beschrieben. Es gibt keine nennenswerten Regelbrüche, keine Fluchtversuche und auch keine Ausraster. Drohungen oder Tätlichkeiten? Anscheinend nicht sein Ding. Mit Blick auf die kommende, blutige Eskalation für Aussenstehende schwer nachvollziehbar.
Raphael M. – ein Erfolg?
In den UPK passte sich Raphael M. schnell an. Er nahm – wenn auch teils widerwillig – seine Medikamente und arbeitete in den Therapien mit. Ab Juni 2019 durfte er sich unbegleitet auf dem Klinikareal frei bewegen, ab Februar 2020 dann auch ausserhalb. Bei diesen Freigängen fiel er zunächst nicht negativ auf.
M. funktionierte: In einer geschützten Werkstatt arbeitete er vier Jahre lang mehrere Tage pro Woche. Dort wurde er als geschätzter Mitarbeiter und Arbeitskollege beschrieben. Motiviert und durchhaltefähig.
Geister und Dämonen erschienen
Doch dieses Bild war trügerisch – und Raphael M. eine tickende Zeitbombe. Zehn Jahre lang gelang es ihm, seine grausamen Pläne vor den Betreuern und seiner Familie geheim zu halten. Bis es am 8. August 2024 erneut eskalierte: Raphael M. tötete während eines bewilligten Ausgangs seine frühere Nachbarin Assunta L.** (†75) am Basler Nasenweg. Die Tat weist viele Ähnlichkeiten zu seinem ersten Mord von 2014 am selben Tatort auf.
Jetzt steht Raphael M. erneut wegen Mordes vor dem Basler Strafgericht. Blick machte die Anklageschrift Anfang September 2025 bekannt. Er ist geständig. Laut Staatsanwaltschaft hängen die Tötungsdelikte von 2014 und 2024 direkt zusammen. M. selbst sprach von Dämonen oder Geistern, die ihm erschienen seien.
Tötung zehn Jahre geplant
Nach der Tat gerieten die Basler Behörden massiv in die Kritik. Der Kanton beauftragte den Justizvollzugsexperten Andreas Werren und den forensischen Psychiater Frank Urbaniok mit einer externen Untersuchung. Das über 200 Seiten lange Dokument – teils geschwärzt – liegt Blick vor. Das Fazit der Experten: Der Rückfall nach über 100 unauffälligen Freigängen kam für die Psychiater der UPK «aus heiterhellem Himmel» und war nur schwer vorhersehbar.
Für Raphael M. selbst offenbar nicht. Schon nach den Morden von 2014 sagte er, er habe «nicht genug Menschen getötet». 2021 erklärte er gegenüber seiner Mutter, er habe vor sieben Jahren die «falsche Person» umgebracht. Laut Akten gab M. nach der Tat im Sommer 2024 an, ihm sei klar gewesen, dass er diesen «Fehler» irgendwann korrigieren müsse. Doch M. hielt seine Pläne geheim und wartete auf eine günstige Gelegenheit.
Meister der Verschleierung
Während seiner stationären Massnahme erlitt Raphael M. fünf schizophrene Rückfälle. Urbaniok hält fest, dass Raphael M. «eine ausserordentliche Fähigkeit hat, Symptome und risikorelevante Entwicklungen zu verbergen». Am Tag davor sowie am Tattag selbst verbrachte M. Stunden auf dem Bett. Gegenüber seinen Betreuern gab er an, er wolle einfach mal nichts tun, weil er Ferien habe und lächelte dabei.
Genauso gekonnt verschleierte Raphael M. über all die Jahre eine wahnhafte Nebenrealität, die ihn wohl seit seiner Kindheit auf Schritt und Tritt begleitete. Über diese Welt soll er ausführlich in einem Tagebuch berichtet haben.
Videospiele mit Dämonen
Diese Welt war gemäss Akten stark geprägt von Fantasy-Elementen. M. galt als videospielsüchtig, spielte selbst während der Massnahme regelmässig bis zu zehn Stunden pro Woche. Die Fachkommission des Strafvollzugskonkordats warnte davor – insbesondere wegen des Games «World of Warcraft». Die Dämonenfiguren im Spiel könnten bei ihm als schizophrenem Patienten deliktrelevant sein. Die UPK widersprachen: Ein direkter Zusammenhang zwischen Spielinhalten und Gewalt sei wissenschaftlich nicht belegt.
Brisant: Obwohl Raphael M. Jahre in der stationären Massnahme verbrachte, konnte niemand seinen genauen Deliktmechanismus knacken. Heisst: Wie genau aus innerem Wahn konkrete Gewalt wurde, blieb unklar. Auch war nie geklärt, welche Rolle der Nasenweg als Tatort hat. Stattdessen durfte M. dort weiterhin im Wohnhaus seines Vaters ein- und ausgehen, um ihn zu besuchen.
Kommt es zur Verwahrung?
Erst seit der Tat von 2024 ist klar: Der Deliktmechanismus basiert auf der «vermutlich kontinuierlich vorhandenen Nebenrealität, die von M. weitgehend abgeschottet und von der Realität getrennt» wurde. Raphael M. tötete, um einen von Dämonen erteilten «Auftrag» zu erfüllen. Es gab ein «dauerhaftes Fortsetzungsmotiv».
M. gilt laut Anklage als therapieresistent. Für die nun angeklagte Tat sei er schuldunfähig. Die Staatsanwaltschaft will ihre Anträge an der Hauptverhandlung stellen. Damit bleibt noch offen, ob Raphael M.s wohl grösste Angst eintritt: die Forderung nach Verwahrung.
Die Verhandlung findet ab heute Mittwoch statt und ist für drei Tage angesetzt. Blick ist vor Ort und berichtet live.
* Name bekannt
** Name geändert