Autismus-Diagnose zu spät
Jolanda (24) soll mit 290 Franken im Monat leben

Oft reicht die staatliche Unterstützung nicht einmal für das Nötigste. Besonders dann, wenn hohe Gesundheitskosten dazukommen.
Publiziert: 10.06.2025 um 19:44 Uhr
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Aktualisiert: 10.06.2025 um 19:49 Uhr
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Die Sozialhilfe gilt als Rettungsring während einer finanziellen Notlage. Dabei reicht sie oft nicht, um die alltäglichen Kosten zu stemmen. (Symbolbild)
Foto: Shutterstock

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Daniela Bleiker Patt
Beobachter

Schon als Kind ist Jolanda anders. Sie reagiert sensibel auf Lärm und die Anwesenheit vieler Menschen. Sich auf neue Situationen einzulassen, fällt ihr schwer. Sie meidet den Kontakt zu anderen Kindern und kapselt sich von der Aussenwelt ab.

Trotzdem schafft sie es, in der Schule gute Noten zu schreiben. Deshalb wird sie bis ins Erwachsenenalter nicht abgeklärt oder diagnostiziert. Nach der Schule fängt sie mit viel Vorfreude eine Lehre als Tierpflegerin an, denn sie liebt Tiere über alles.

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Rasch merkt sie aber, dass die Verantwortung sie überfordert. Schweren Herzens gibt sie ihre Traumlehrstelle auf. Ihr Umfeld ist sich einig, dass es gar keine andere Option als eine Lehre gibt. Also startet sie in einer Bäckerei einen neuen Versuch.

Sie schliesst als Beste im Kanton ab

Doch der Umgang mit Arbeitskollegen und Kundinnen raubt ihr viel Energie. Sie schafft es kaum, sich bis zum nächsten Arbeitstag zu erholen. Dank der Unterstützung eines Psychiaters und mit reduziertem Arbeitspensum kann sie die Lehre abschliessen – als Beste im Kanton. Jolanda kann sich kaum darüber freuen, denn sie ist komplett ausgelaugt von der Lehrzeit und schafft es nicht, im Arbeitsleben Fuss zu fassen.

Als sie 19 Jahre alt ist, äussert eine neue Psychiaterin erstmals den Verdacht auf Autismus und schreibt sie zu 100 Prozent krank. Die Diagnose ist im ersten Moment eine Erleichterung. Endlich hat ihr «Anderssein» einen Namen.

Die Odyssee endet bei der IV

Eine Autismus-Spektrum-Störung ist angeboren, besteht ein Leben lang und wird rechtlich als Behinderung klassifiziert. Von aussen werden oft nur die Intelligenz und Reife einer Person gesehen und nicht, mit welchen Einschränkungen und Schwierigkeiten die Person umgehen muss.

«Manchmal habe ich das Gefühl, man würde mich eher ernst nehmen, wenn man mir meine Behinderung ansähe», sagt Jolanda. Personen mit Autismus-Spektrum-Störung nehmen die Welt anders wahr – das kann Reizüberflutung und dadurch grossen Stress auslösen. Der Umgang mit anderen Menschen ist für viele Betroffene eine grosse Herausforderung und strengt an. Jolanda muss ihre sozialen Kontakte deshalb auf ein Minimum beschränken und verbringt viel Zeit in ihrer Wohnung und auf ihrer Terrasse.

Mit der Diagnose beginnt eine Odyssee mit zahlreichen Behördengängen, Arzt- und Psychiaterbesuchen und einer Anmeldung bei der Invalidenversicherung (IV). Die IV schickt sie zur Abklärung zu einem Arzt im Kanton Appenzell, der keine Erfahrung im Autismusbereich hat. Er stellt diverse Diagnosen, Autismus ist aber nicht dabei.

Lange IV-Verfahren und strenge Kriterien für eine IV-Rente sind häufige Gründe, weshalb Personen Sozialhilfe beziehen müssen. Auch Kinder und Jugendliche, Alleinerziehende und Menschen nach einer Scheidung haben ein grosses Risiko, von Sozialhilfe abhängig zu werden. Aktuell beziehen in der Schweiz etwa 257’000 Personen Sozialhilfe.

Heute ist Jolanda 24 Jahre alt und wohnt im Kanton Luzern auf dem Land. Ihr richtiger Name lautet anders – Sozialhilfe ist ein sensibles Thema, sie möchte anonym bleiben. Jolanda gibt nicht auf. Sie hat auf eigene Kosten eine Abklärung bei der Autismus-Fachstelle der Luzerner Psychiatrie gemacht.

Die Diagnose der Fachstelle ist eindeutig: Autismus-Spektrum-Störung. Der 14-seitige Fachbericht liegt jetzt bei der IV. Jolanda weiss nicht, wann sie mit einem Entscheid rechnen kann. Unterstützt wird sie von einem Anwalt der Pro Mente Sana, ihrer Psychiaterin und ihrer Familie.

Jolanda schafft es nicht, so viel zu arbeiten, dass sie davon leben kann. Solange die IV keine Rente zahlt, bleibt ihr nichts anderes übrig, als Sozialhilfe zu beziehen.

Ein Anrecht auf Sozialhilfe haben alle, deren Einkommen nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt zu decken. Zuerst muss Jolanda aber ihr ganzes Vermögen bis auf 4000 Franken aufbrauchen. In einigen Kantonen ist dieser Betrag sogar noch tiefer, oder es gibt gar keinen Freibetrag. Für die Sozialhilfe sind Gemeinden und Kantone zuständig. Deshalb gibt es teilweise erhebliche Unterschiede zwischen den Regionen.

Die finanziellen Verhältnisse offenlegen

Wer Sozialhilfe will, muss dem Sozialamt seine finanziellen Verhältnisse offenlegen und auch sonst Rede und Antwort stehen. Viele Sozialdienste verlangen bereits bei der Anmeldung, dass Ärztinnen, Therapeuten oder Sozialversicherungen von der Schweigepflicht entbunden werden.

Jolanda empfindet das als entwürdigend, weil sie mit ihrer Psychiaterin und ihren Ärzten sehr persönliche Sachen bespricht. Sie weigert sich deshalb, solche Generalvollmachten zu unterschreiben. Sie ist aber bereit, für bestimmte Auskünfte gezielt die Schweigepflicht aufzuheben, wenn das Sozialamt das verlangt. Ihr ist bewusst: Das Sozialamt kann die Leistungen kürzen, wenn sie nicht mitarbeitet.

Einkommen und Sozialhilfe

Ein Teil der Sozialhilfebeziehenden hat einen Job. Aber viele von ihnen können nur mit einem geringen Pensum arbeiten oder sind in Niedriglohnbranchen tätig. Oder sie besuchen ein Integrationsprogramm, um langsam wieder an ein Arbeitsleben herangeführt zu werden.

Die Sozialhilfe unterstützt Anstrengungen zur Integration: Wer arbeitet und trotzdem Sozialhilfe braucht, darf bis zu 600 Franken seines Lohns behalten. Wer nicht arbeitet, aber an Integrationsprogrammen teilnimmt, kann eine Zulage von bis zu 300 Franken erhalten. Für welche Tätigkeiten und welches Pensum man Zulagen erhält, ist unterschiedlich geregelt. Jolanda kann an manchen Tagen kleine Tätigkeiten von zu Hause aus verrichten und verdient damit bis zu 100 Franken dazu.

Das Geld reicht kaum

Weil Jolanda von ihrem Grundbedarf einen Teil der Miet- und Gesundheitskosten finanzieren muss, bleibt ihr zu wenig für Lebensmittel. So geht es vielen, sagt Beat Handschin von der Stiftung SOS Beobachter: «Uns erreichen viele Gesuche von Menschen, bei denen die Sozialhilfe nicht die ganze Miete übernimmt. Dies führt immer wieder zu finanziellen Notlagen für die Betroffenen, weil sie die Differenz aus dem schon knappen Grundbedarf zahlen müssen.»

Bei Jolanda kommt noch hinzu, dass sie mit 24 Jahren als junge Erwachsene gilt. Deshalb wird ihr der Grundbedarf um 20 Prozent gekürzt. Diese Kürzung fällt weg, sobald sie 25 Jahre alt wird. Ein kleiner Lichtblick, denn momentan bleiben ihr gerade mal 290 Franken im Monat zum Leben.

Ohne Spende ging es nicht

Jolanda ist dankbar, dass sie vergünstigte Lebensmittel beziehen kann. Trotzdem ist es für sie nur schwer zu ertragen, dass sie überhaupt darauf angewiesen ist und dass sie seit Jahren um Unterstützung kämpfen muss – trotz einer durch Fachberichte gestützten Diagnose, die rechtlich als Behinderung klassifiziert ist.

«Ich habe mir bestimmt nie gedacht, dass ich bereits mit 24 Jahren kaum mehr Zukunftsperspektiven und Aussichten auf ein würdevolles Leben habe.» Ihre Hoffnung liegt auf einem positiven IV-Bescheid, der ihre finanzielle Lage verbessern würde. Denn mit IV und Ergänzungsleistungen bleibt meist mehr zum Leben als mit der Sozialhilfe.

Jolanda belastet auch sehr, wie die Gesellschaft auf Sozialhilfebeziehende schaut. Weil ihr Wohnhaus in einem Jahr abgerissen wird, studiert sie täglich Wohnungsinserate. Günstige Bleiben sind rar. Und wenn dann endlich ein passendes Inserat in der Zeitung ist, kommt es vor, dass da steht: «Haustiere erlaubt, keine Sozialhilfebeziehende». Ein Schlag ins Gesicht der jungen Frau. «Aufgrund von finanzieller Armut sollten keine Rückschlüsse gezogen werden auf den Charakter und die Eigenschaften einer Person», sagt sie. «Finanziell arm zu sein, heisst nicht, intellektuell arm zu sein.»

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