Darum gehts
- Urs Diethelm lebt seit 25 Jahren mit Multipler Sklerose und braucht Unterstützung
- Trotz Einschränkungen bleibt er aktiv und unternimmt viele Ausflüge und Aktivitäten
- 17 Assistenzpersonen wechseln sich in drei Schichten ab, um ihn zu betreuen
Urs Diethelm spricht in kurzen Sätzen, die sitzen: «Früher war ich als Bauleiter der König auf der Baustelle.» Pause. «Dann nur noch der Typ im Rollstuhl.» Draussen malt der Frühling Pastellfarben auf die Wiesen. Drinnen ist der 65-Jährige warm eingepackt: Sherpa-Pulli, Schal, eine Decke über den Beinen. «Ich friere oft», sagt er. «Ich bewege mich ja kaum.»
Seit 25 Jahren lebt der Basler mit Multipler Sklerose. Rund um die Uhr ist er auf Hilfe angewiesen. 17 Assistenzpersonen wechseln sich in drei Schichten ab. Nachts decken sie ihn zu, drehen ihn auf die Seite, helfen beim Abhusten. Tagsüber weichen sie kaum von seiner Seite. Kein Schritt, kein Griff, kein Schluck ohne Unterstützung – und diese Unterstützung kostet.
Plötzlich brechen die Beine weg
«Könntest du Birgit holen?», bittet Urs Diethelm seine Assistentin. Kurz darauf erscheint seine Partnerin; Lesebrille im kurzen Haar, einen Ordner unter dem Arm. Dokumente von Ärztinnen, Versicherungen, Behörden. Krankheitskosten, Ergänzungsleistungen, Assistenzbeiträge – Themen, die Birgit Althaler früher fremd waren. «Heute bin ich Expertin», sagt sie. Zwangsläufig. «Ich hätte mir eine Anleitung gewünscht. Oder mehr Unterstützung.»
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Doch das Paar war weitgehend auf sich allein gestellt. Es musste Ämter abklappern, Infos zusammensuchen, Absagen hinnehmen. Und immer wieder in die eigene Tasche greifen – so tief, dass das Geld heute knapp ist. Wie konnte es so weit kommen?
Urs Diethelm wächst in einem Vorort von Basel auf, macht die Lehre zum Zimmermann und wird Bauführer. 1988 trifft er Birgit Althaler. Das Paar reist viel, engagiert sich politisch, lebt eine Zeit in Bethlehem. «Eine glückliche Zeit», sagt sie. Er lächelt.
Die Krankheit trifft Diethelm im Jahr 2000. In einer Sitzung merkt der 40-Jährige, dass mit seinen Beinen etwas nicht stimmt. Auf dem Weg zum Bahnhof brechen sie weg. Er torkelt, klammert sich fest, fährt direkt ins Spital.
Die Diagnose kommt schnell: Multiple Sklerose, progredienter Verlauf. Das bedeutet: schleichender Beginn, stetige Verschlechterung. Zu den ersten Symptomen gehören Gangstörungen, Muskelschwäche, Taubheit, Kribbeln, Spastik. Diethelm kämpft dagegen an. Selbst als ihm das Laufen schon schwerfällt, wehrt er sich gegen den Rollstuhl. «Für mich war klar: Wenn ich mal darin sitze, stehe ich nicht mehr auf.» Genau so kommt es.
Nach und nach verliert er, was ihm wichtig ist: Freiheit, Hobbys, den Job. «Anfangs ging ich noch auf die Baustelle. Dann wurde ich anders angesehen. Nicht mehr ernst genommen.» Die IV spricht ihm eine volle Rente zu.
Über eine Sonde ernährt
Mit vielem hadert Diethelm erst und arrangiert sich dann doch. Noch immer ist er gern unterwegs, vorerst im Aktivrollstuhl oder mit dem Swiss-Trac, einem elektrischen Zugapparat zum Ankoppeln. «Wir waren oft in den Bergen oder in Berlin. Du warst ziemlich mobil», erinnert sich Althaler.
Ab 2020 geht es steil bergab, heute ist die Krankheit weit fortgeschritten. «Die linke Hand kann ich etwas bewegen», sagt Diethelm. Pause. «An einem guten Tag.» Langsam spreizt er die Finger, rot lackierte Nägel. Manchmal kann er den Joystick am Elektrorollstuhl steuern, wenn sein Arm entsprechend mobilisiert und positioniert wird.
Die rechte Körperhälfte bleibt regungslos, die Beine auch. Seit 2022 wird er über eine Sonde ernährt und trägt einen Dauerkatheter. Auf den Bronchien sammelt sich Schleim, den er ohne Hilfe nicht abhusten kann.
Als Birgit Althaler die Betreuung nicht mehr allein stemmen kann, sucht sie auf dem Uni-Marktplatz Unterstützung – erst stundenweise, dann in grösserem Umfang. Im Mai 2023 beantragt der behandelnde Arzt bei der Sozialversicherungsanstalt eine ganztägige Betreuung. Diethelm droht am eigenen Speichel zu ersticken. Er darf nicht mehr allein sein, ein Heim kommt aber für ihn nicht in Frage. Denn das Paar hat sein Haus über Jahre rollstuhlgerecht umgebaut. «Zu Hause ist die Pflege sowieso einfacher», so Diethelm. Und selbst Kliniken betreuen nicht rund um die Uhr.
17 Assistenzpersonen zu koordinieren, bedeutet einen enormen Aufwand: Verträge, Einführungen, Abrechnungen für die IV. Ein Mitbewohner führt die Buchhaltung, Birgit Althaler hält die Fäden zusammen, auch gegenüber Spitälern und Ärzten.
«Wir sind gut organisiert, wie eine kleine Firma», sagt sie. Sorgen machen ihr die Finanzen: «200’000 Franken hat die Betreuung letztes Jahr gekostet. Die Hälfte mussten wir selbst zahlen.» Daneben: Stunden auf der Notfallabteilung, Behördenläufe, Wartefristen – und immerwährend das Gefühl, dass etwas falsch läuft.
Die Bürokratie ist ein Kraftakt
Was Diethelm erlebt, hat System. Abklärungen sind enorm aufwendig, die Rechtslage ist komplex – besonders für Menschen mit Einschränkungen oder ohne Unterstützung. «Beratungsangebote müssen ausgebaut werden», sagt Matthias Kuert Killer von Inclusion Handicap. «Wir brauchen mehr unabhängige Stellen, die Betroffene durch diesen Dschungel begleiten.»
In Basel wächst dieses Angebot heute stark. Doch Diethelm und Althaler kämpfen sich oft allein durchs Dickicht. Rechtlich gilt: Neben der IV-Rente hat der heute 65-Jährige Anspruch auf Hilflosenentschädigung und Assistenzbeiträge. Sie sollen ihm ein möglichst selbständiges Leben zu Hause ermöglichen.
Aber schon die Anspruchsprüfung wird zum Kraftakt. Birgit Althaler zieht Dokumente aus dem Ordner: seitenlange Listen – Essen, Trinken, Körperpflege, Notdurft, Mobilität. In fast allen Bereichen braucht Diethelm die höchste Pflegestufe. Hilflosenentschädigung und Assistenzbeiträge wurden ihm zwar bewilligt. Selbst der Maximalbetrag reicht aber bei weitem nicht aus. 2023 ist das gesprochene Geld im Oktober aufgebraucht, 2024 schon im Juli.
Auch dafür gäbe es eine Lösung: Ergänzungsleistungen. Sie helfen, wenn Rente oder Einkommen nicht zum Leben reichen. Trotzdem wird Diethelms Antrag 2024 abgelehnt. Der Grund: zu viel Vermögen. «Ich hatte von meinen Eltern einen Erbvorbezug erhalten, um die Gesundheitskosten zu decken», erklärt er. Damit liegt das Paar über der erlaubten Vermögensgrenze. Doch das Geld ist schnell weg.
Für den Antrag auf Übernahme behinderungs- und krankheitsbedingter Mehrkosten reicht Birgit Althaler ab Januar 2025 über 300 Belege ein. Es geht um über 80’000 Franken. Seither warten sie – wie lange, ist unklar, und die Mittel sind bald aufgebraucht. «Wir sind zuversichtlich, aber sicher sein können wir nicht», sagt sie. Er ergänzt: «Muss es wirklich so schwierig sein? Ist eine ambulante 24-Stunden-Betreuung in der Schweiz nicht möglich?»
Inklusionsinitiative und indirekter Gegenvorschlag
Betroffene kritisieren diese Umstände seit langem. Letzten Herbst wurde die Inklusionsinitiative eingereicht. Sie fordert: Menschen mit Behinderung sollen selbst bestimmen, wo und wie sie leben – mit Assistenz zu Hause oder in einer Institution. Der Bundesrat plant einen indirekten Gegenvorschlag, die erste Vernehmlassung steht kurz bevor.
«Unterstützung in den eigenen vier Wänden muss endlich gleichwertig gefördert werden», sagt Matthias Kuert Killer von Inclusion Handicap. Denn echte Wahlfreiheit fehle – ein Verstoss im Sinne der Uno-Behindertenrechtskonvention. Dabei zeigen Studien: Betreuung zu Hause ist nicht teurer, bringt aber mehr Lebensqualität. Noch gibt es keine verbindlichen Vorgaben für die Kantone. «Die Schweiz ist ein Flickenteppich. Wer Glück hat, lebt in einem fortschrittlichen Kanton, der zusätzliche Leistungen bereitstellt.»
Basel-Stadt gehört dazu, in Baselland, wo Diethelm lebt, sieht es schlechter aus. Das Behindertenrechtegesetz setzt die Uno-Konvention auf kantonaler Ebene um, das Behindertenhilfegesetz regelt Unterstützungsleistungen. Ergänzend zum Assistenzbeitrag können die Kantone eigene Mittel sprechen. Doch der Zugang bleibt mühsam: «Allein schafft man das kaum», sagt Georg Mattmüller vom Behindertenforum. Und selbst wenn – oft reicht es nicht aus. «Der Assistenzbeitrag des Bundes müsste deutlich höher sein. Selbstbestimmung darf nicht vom Wohnort abhängig sein.»
Veränderung braucht Geduld – doch Urs Diethelm fehlt die Kraft. «Die Situation fühlt sich für mich bedrohlich an und zehrt an uns. Auch an dir», sagt er zu seiner Partnerin. Ferien täten gut, doch auch die haben sich gewandelt. «Früher ging es um Abenteuer, heute zuerst ums Organisieren», erzählt Birgit Althaler. Einmal seien sie zwei Wochen zu zweit verreist. «Danach war ich fix und fertig. Seither zieht sich alles in mir zusammen, wenn ich ‹Ferien› höre.»
Mehr als 35 Jahre sind Diethelm und Althaler ein Paar. Es gab Krisen, Trennungen auf Zeit, gemeinsame Therapien. «Aus der Liebesbeziehung wurde zum Teil eine Pflegebeziehung. Aufgeben war aber nie eine Option», sagt sie. Er lächelt, Tränen laufen über seine Wangen. Eine Assistentin zieht ihm die Brille aus, tupft die Augen trocken.
«Es gibt auch schöne Momente. Du haderst nie lange und unternimmst trotz allem viel», sagt Birgit Althaler. Ausflüge in die Berge, ins Kino, an Podien, zu Uni-Vorlesungen. «Mein Verstand ist ja da – und dem hilft es nicht, wenn ich mich einigle», erwidert er. «Das ist Typsache. So bist du.» – «Ja. Auch wenn das viele nicht nachvollziehen können: Ich lebe eben sehr gern.»