Weltweit veränderte Bedrohungslage
Muss die Schweiz mehr für Europas Sicherheit tun?

Die Schweiz erhöht ihre Militärausgaben. Aber das reicht noch lange nicht, sagt ETH-Sicherheitsexperte Daniel Möckli im Interview. Die Schweiz muss ihre Rolle in einer veränderten Weltlage neu definieren.
Publiziert: 29.05.2025 um 17:34 Uhr
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«Europa braucht eine Rückversicherung»: ETH-Sicherheitsexperte Daniel Möckli.
Foto: zVg

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Peter Johannes Meier
Beobachter

Daniel Möckli, die hoch verschuldeten USA wollen die militärische Sicherheit Europas nicht länger finanzieren. Viele Länder pumpen künftig Hunderte Milliarden in die Aufrüstung. Was kommt auf uns zu?
Daniel Möckli:
Die Friedensdividende nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 ist aufgebraucht. Auch die Schweiz wird mehr für Rüstung ausgeben müssen. Dafür gibt es drei Gründe: Erstens rüstet Russland seit dem Krieg gegen die Ukraine massiv auf, während die Nato Moskau mit eigener Hochrüstung abschrecken will. Zweitens hat die Glaubwürdigkeit der US-Sicherheitsgarantie für Europa, von der auch die Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg profitiert hat, abgenommen. Was Donald Trump genau vorhat, wissen wir nicht, aber Europa braucht eine Rückversicherung. Drittens befindet sich die ganze Welt in einem Sog von Machtpolitik. Es gibt deutlich mehr bewaffnete Konflikte. Hinzu kommen weitere feindliche Aktionen wie Sabotage, Cyberwar und Desinformation.

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In unseren Alltag sind solche Bedrohungen noch kaum eingedrungen. Sind wir zu naiv? Oder werden die Risiken übertrieben?
Die Sicherheitslage hat sich ganz klar verschlechtert. Aber ob Russland tatsächlich ein Nato-Land angreifen würde, bleibt Spekulation. Europa erinnert heute etwas an ein gallisches Dorf, an eine Insel der Freiheit, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. All diese Werte werden aber von aussen bedrängt, nicht nur von Russland. Um sie zu verteidigen, braucht es die Bereitschaft der Bevölkerung, Geld für eine koordinierte Aufrüstung auszugeben. Geld, das anderswo fehlen wird. Das sollten wir nicht verdrängen. Wenn zum Beispiel zu stark auf Kosten des Sozialstaats aufgerüstet wird, werden Protestparteien noch stärker – es wird ein Balanceakt.

Die Aufrüstung soll koordiniert geschehen, betonen Sie. Wer kommt denn für diese Koordination infrage?
Europa ist dabei, sich neu zu organisieren. Es zeichnen sich pragmatische Lösungen ab. Für die militärische Komponente ist die Nato vorerst zwar unersetzlich; und die EU dürfte in der Koordination von Rüstungsbeschaffungen und der Industrieentwicklung an Bedeutung gewinnen. Zusätzlich werden aber bilaterale und regionale Kooperationen wichtiger, auch mit «Drittstaaten» wie Grossbritannien, Norwegen, der Türkei oder eben der Schweiz. Das Pragmatische daran ist, dass Staaten und Institutionen gemeinsam am Tisch sitzen und weniger Konkurrenzdenken herrscht. Flexible Formate werden an Bedeutung gewinnen.

Denken Sie an die «Koalition der Willigen», die unter der Führung von Frankreich, Grossbritannien und Deutschland die Ukraine unterstützen will?
Die Unterstützung der Ukraine ist sicher eine wichtige Piste. Aber es geht auch um Initiativen zur Stärkung der europäischen Verteidigung. Auch hier sehe ich einen Trend zu mehr Flexibilität in der Form der Kooperation. Es wird wohl verschiedenste Koalitionen geben, auch je nach Themenfeld.

Das klingt nach einem vielfältigen Jekami, nicht nach einer fassbaren europäischen Verteidigungsstrategie.
Der Eindruck ist nicht falsch. Aber Europa muss sich jetzt am Machbaren und Notwendigen orientieren. Die einzelnen EU-Länder setzen sehr unterschiedliche Prioritäten im Umgang mit Bedrohungen. Das Einstimmigkeitsprinzip und langwierige Prozesse blockieren die EU in der Verteidigungsfrage. Das eröffnet Chancen für Länder wie die Schweiz, ihre Stärken für die Sicherheit Europas einzubringen.

Wo sehen Sie diese Stärken der Schweiz?
Wir haben ein grosses Fachwissen und auch Erfahrung in der Gestaltung und Umsetzung von Waffenstillständen. Das ist ein Friedensbeitrag, der im Ukraine-Konflikt eine Rolle spielen könnte. Aber auch im Rüstungsbereich sehe ich Chancen. Neben bestehenden Fähigkeiten wie Flugabwehr und Herstellung von Munition ist die Schweiz im Bereich der Drohnentechnologie hervorragend aufgestellt. Die ETH, aber auch private Firmen, sind hier sehr innovativ. Und Drohnen spielen ja eine immer wichtigere Rolle in der Kriegsführung. Als Waffe, aber auch zur Informationsbeschaffung. Und Letzteres gewinnt nicht nur im Krieg an Bedeutung.

Soll die Schweiz in diesem Bereich eine eigene Rüstungsindustrie aufbauen?
Sie hat das Potenzial, in einem Schlüsselbereich autonomer zu werden und zugleich international nachgefragte Technologiekompetenzen aufzubauen. Solche Trümpfe sind im Geben und Nehmen internationaler Rüstungstransfers wichtig. Für eine eigene Rüstungsindustrie ist aber entscheidend, dass auch Drittländer die Produkte kaufen. Die heute strengen und fürs Ausland unverständlichen Exportbeschränkungen im Kriegsmaterialgesetz sind für die heimische Industrie ein grosses Problem. Der Bundesrat verlangt darum zu Recht mehr Handlungsspielraum. Andernfalls wird die Schweiz als Rüstungsproduzentin von ihren bisherigen Kunden vernachlässigt werden.

Die Schweiz will die Militärausgaben langfristig auf 1 Prozent des Bruttoinlandprodukts erhöhen, heute sind es 0,7 Prozent. Der europäische Schnitt liegt schon bei rund 2 Prozent und soll noch erhöht werden. Ausländische Politiker haben die Schweiz bereits als Trittbrettfahrerin und Schmarotzerin kritisiert. Zu Recht?
Zunächst ist zu sagen, dass die Schweiz konservativer rechnet als andere Staaten. Das fängt damit an, dass sie die Personalkosten in dieser Quote nur teilweise ausweist. Aber es ist nicht wegzudiskutieren: Die Verteidigungsausgaben sind vergleichsweise tief. Wichtige internationale Stimmen, die der Schweiz eigentlich wohlgesinnt sind, zeigen sich zunehmend irritiert. Die Schweiz wird wohl aus Eigeninteresse mehr investieren müssen. Wenn sie sich solidarischer mit Europa zeigt, kann sie in einer Krise auch eher auf zuverlässige Partner zählen. Die werden in der heutigen ruppigen und unübersichtlichen Welt wichtiger. Übrigens gibt es auch Bereiche, in denen die Schweiz Trendsetterin ist: Sie hat noch eine Wehrpflicht.

Aber auch der Schweiz fehlen Soldaten. Und das Personalproblem wird sich verschärfen.
Ja, es gibt das demografische Problem. Hinzu kommt der Wertewandel. Wir haben ja auch nur eine «relative Wehrpflicht». Etwa ein Drittel der jungen Männer wird heute als dienstuntauglich eingestuft. Und wer aus Gewissensgründen keinen Militärdienst leisten will, kann einen zivilen Ersatzdienst absolvieren. Die Wehrpflicht muss darum politisch neu ausgehandelt werden. Auch die Frage einer Dienstpflicht für Frauen dürfte ein Thema werden. Dänemark hat sie gerade eingeführt. Mehr Geld für Waffen macht halt noch keine verteidigungsfähige Armee aus.

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