Darum gehts
Diana Gutjahr wird es nie langweilig. Die Thurgauerin sitzt für die SVP im Nationalrat, weibelt im Vorstand von Swiss Tennis, präsidiert den Thurgauer Gewerbeverband und leitet obendrein mit ihrem Ehemann die Stahlbaufirma Ernst Fischer AG in Romanshorn, die der Familie gehört. Ein übervoller Kalender einer KMU-Unternehmerin und Milizpolitikerin. Nun hat die 41-Jährige ein weiteres Thema in ihre Agenda gezwängt – Europa und die Nachhaltigkeit. Deswegen sitzt die Patronne sonntags im Büro und kämpft sich durch Dokumente, die schwerfällige Namen wie «Corporate Sustainability Reporting Directive», «EU Supply Chain Act» oder «Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz» tragen. Jedes davon ist 100 Seiten lang; mit Anhängen und Zusatzdokumenten sind es locker 400 Seiten. Noch umfassender ist die EU-Taxonomie, ein Klassifizierungssystem, das seit 2020 wirtschaftliches Handeln als gut oder schlecht beurteilt. Der Umfang: 600 Seiten.
Dieser Artikel wurde erstmals im Angebot von handelszeitung.ch veröffentlicht. Weitere spannende Artikel findest du unter www.handelszeitung.ch.
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Es ist die Realität in Schweizer Betrieben: Die EU stösst in hoher Kadenz Paragrafen, Verordnungen und Richtlinien aus. Abzulesen ist das an der Stärke der Nachhaltigkeitsberichte, die mittlerweile im Schnitt 30 Seiten umfassen. Bei Konzernen wie ABB sind es 150 Seiten, vor zehn Jahren war es noch die Hälfte. Insgesamt füllen die Reportings, die über Abwasser, Energieverbrauch, Lieferkette und CO2-Ausstoss Zeugnis abliefern, 1,5 Millionen Seiten – aufgestapelt ergäbe dies einen Turm so hoch wie der Prime Tower in Zürich, schätzt der Dachverband Economiesuisse. Und der Turm wird immer höher, denn weitere Berichte stecken in Brüssels Pipeline.
Treiber dieser Lust am Dekretieren ist der Green Deal, den die EU 2019 lancierte. Er soll Europas Wirtschaft bis 2050 klimaneutral machen. Die Umsetzung dieses Ziels zeitigt fatale Folgen: Wachstum wird durch eine Papierflut erstickt, Innovation findet im Ausland statt. Eines der famosen Kernstücke heisst CSRD (Corporate Sustainability Reporting Directive), es umfasst 66 Seiten, dazu über 1000 Seiten für ergänzende Verordnungen. Seit 2023 in Kraft, wird es laufend ergänzt.
Es schreibt vor, wie Firmen über ihre Umwelt-, Sozial- und Governance-Leistungen (ESG) zu berichten haben – darüber, wie sich ihre Geschäftstätigkeit auf die Biodiversität auswirkt oder wie das interne Whistleblowing-System funktioniert. 1100 Datenpunkte sind definiert, davon sind 783 obligatorisch zu quantifizieren. Mit der neunzigseitigen Ökodesign-Anordnung, Bestandteil des Green Deal, wird die Kreislaufwirtschaft geplant. Sie bestimmt, wie Firmen Abfall zu entsorgen haben. So gilt etwa ein Zerstörungsverbot von «wasserdichten Schuhen mit Laufsohlen und Oberteil aus Kautschuk oder Kunststoff, bei denen weder das Oberteil mit der Laufsohle noch das Oberteil selbst durch Nähen, Nieten, Nageln, Schrauben, Stecken oder ähnliche Verfahren zusammengefügt ist».
Es trifft vor allem die Kleinen
Nieten oder nageln: Theoretisch sind vom Brüsseler Regulierungseifer bloss Firmen mit mindestens 500 Mitarbeitenden oder 50 Millionen Euro Umsatz in der EU betroffen. Praktisch aber stehen via CSDDD (Lieferkettenrichtlinie) auch die kleinen und mittleren Zulieferer in der Pflicht, auch in der Schweiz. Je nach Schätzung sind hierzulande 30'000 bis 50'000 Firmen betroffen. Die CSDDD überwacht die gesamte Liefer- und Wertschöpfungskette und will sie auf einen grünen Pfad einschwören. Marktkräfte sind nicht gefragt, Anreizsysteme zum Beispiel. Brüssel kennt die Lösung: Bürokratie.
Nur wer bei den Hausaufgaben mitmacht, erhält eine Zertifizierung für den Marktzugang. «Wer nicht zertifiziert ist, kann nicht liefern», sagt Gutjahr. Sie erinnert sich, dass vor wenigen Jahren Werkverträge zwischen Firmen 5 bis 10 Seiten umfassten, heute sind es 150 bis 200. Der Aufwand bringt manches KMU an die Grenzen. Der Bürokratiemonitor des Seco wies bereits 2022 für KMU jährliche regulatorisch bedingte Zusatzkosten in der Höhe von 6,3 Milliarden Franken aus – das ist eine halbe Milliarde mehr, als die Landesverteidigung kostet. Dasselbe Bild in Deutschland: Dort haben sich die Bürokratiekosten für die Wirtschaft innert zehn Jahren verfünffacht – auf 25 Milliarden Euro. Beim deutschen Mittelstand ist die wuchernde Bürokratie längst das Ärgernis Nummer eins. Veronika Grimm, Mitglied des Sachverständigenrats, der die Regierung in Berlin berät, sagt: «Wir müssen dringend entscheiden, welche lähmenden und destruktiven Regulierungen wir abschaffen müssen.»
Stattdessen dreht die Regulierungsmaschine hochtourig. Alle sind betroffen: Grosse und Kleine, Metallindustrie, Chemie, Banken, Immobilienbesitzer, Schreiner, Investoren, Nahrungsmittelhersteller. Letztere kämpfen mit der Europäischen Entwaldungsverordnung (EUDR), die den Nachweis verlangt, dass Rohstoffe wie Kakao, Kaffee, Vanille, Kokosfett und ihre Verpackung ohne Entwaldung oder Waldschäden entstanden sind. Obendrein wird verlangt, dass die Geolokalisierungsdaten jener Grundstücke, auf denen die Rohstoffe wachsen, über einen EU-Datensammelpunkt offengelegt werden. Er heisst Esap, European Single Access Point, und soll eine schier unendliche Datenmenge verwalten.
Was an Amtsstellen ausgeheckt wurde, stösst überall auf Unverständnis. Kakaobauern in Ghana oder Kaffeepflanzer in Ecuador haben oftmals gar keinen Zugriff auf GPS-Daten. Produzenten oder Lieferanten im Norden sind derweil überfordert und müssen bei Verstössen mit Bussen rechnen, klagefähig sind auch NGOs oder Gewerkschaften in EU-Ländern. Die Folgen für die Kleinbauern in Afrika, Asien und Lateinamerika: Lieferketten werden gekappt, was besonders die Ärmsten trifft. Chocosuisse, der Verband der Schokoladenhersteller, schreibt: «Die von NGOs bejubelte EU-Entwaldungsverordnung schadet den Kleinbauern.» Schwarz sieht das Niederländische Agrarministerium für die 230'000 Kaffeebauern in Peru: «Die Auswirkungen der EUDR bedrohen das Überleben von vielen Gemeinschaften im peruanischen Amazonas-Gebiet.» Entsprechend wehren sich die Ursprungsländer im Süden gegen das Diktat, weil sie einen Anstieg der Armut und Abholzungen befürchten.
Auch die kleinen Schoko-Hersteller in der Schweiz leiden, weil die Vorgaben komplex sind und Themen wie Menschenrechte gleich in mehreren EU-Vorschriften unterschiedlich reguliert werden. «Wir sind mit viel Unsicherheit konfrontiert», sagt Jessica Herschkowitz, die beim Schokoladen-Fabrikant Camille Bloch für Nachhaltigkeit zuständig ist. Natürlich sei man für Nachhaltigkeit, aber das Vorgehen verursache enormen Aufwand. Der Nutzen sei zweifelhaft. Diverse KMU-Eigentümer reden von Zusatzkosten von mehreren Hunderttausend Franken – bei Riesen wie Nestlé, Mars und Ferrero sind es Millionen, aber diese lassen sich abfedern. Nestlé unterstützt die Richtlinien; der Konzern hat viel Vorarbeit geleistet. Doch es geht viel einfacher: den Kakao- oder Kaffeebauern bei bester Qualität einen höheren Abnahmepreis garantieren. Lindt & Sprüngli führt seit 2008 das sogenannte Farming Program, das die Rückverfolgbarkeit von Kakao sichert und Schulen baut, um Kinderarbeit zu reduzieren. Auch der Kakao-Plan von Nestlé setzt in Afrika auf bessere Verdienste für Bauern.
Auch beim deutschen Schreinerverband sorgt die Entwaldungsverordnung für heisse Köpfe. In einer Umfrage gaben 73 Prozent der befragten Mitglieder an, die zeitlichen Vorgaben nicht umsetzen zu können. Unterstützung erhalten sie aus den USA, Donald Trump hat nicht nur das Pariser Klimaabkommen gekündigt, sondern er lehnt auch den exterritorialen Zugriff der EU auf US-Firmen ab. Wer es wagt, US-Firmen an ihre EU-Reporting-Pflichten zu erinnern, muss mit der Holzkeule rechnen. Ohnehin hat Trump ganz andere Pläne: Er streicht Steueranreize für Solarindustrie und Elektroautos, gibt Naturschutzgebiete für die Exploration frei («Drill, baby, drill») und baut ESG-Normen zurück. Die «Financial Times» schreibt von einem «Deregulatory Blitz».
Immenser Aufwand für CO2-Berechnungen
Brüssel aber sieht sich als Gegenbewegung und verliert sich in hochkomplexen Modellen. Zu ihnen gehört der Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM), mit dem der CO2-Ausstoss von Stahl, Aluminium oder Zement aus dem Ausland gemessen werden muss, der in europäischen Produkten verbaut wird. So soll emissionsintensive Ware aus dem Ausland belastet werden, um die nachhaltigeren Materialien aus Europa nicht zu benachteiligen. In der Theorie ein sinnvoller Ansatz für fairen Wettbewerb, aber er ist mit einem immensen Aufwand verbunden, wenn es etwa darum geht, den CO2-Ausstoss eines Stahlteils aus chinesischer Produktion zu quantifizieren. «Völlig realitätsfern», sagt ein Schweizer KMU-Unternehmer. Zumindest bei einer Maschine, die aus 7000 Einzelteilen besteht, die global eingekauft werden. Das Risiko besteht, dass Firmen künftig ihre Investitionen nicht mehr in der Schweiz tätigen, sondern ausserhalb Europas, warnt Michael Matthes, Vizedirektor bei Scienceindustries. Ärger kommt selbst auf die Immobilienbesitzer in Basel und Zürich zu, die EU-Firmen zu ihren Mietern zählen. Sie müssen, um ihre Umweltbelastung zu quantifizieren, Papierverbrauch, Bürotemperatur, Abfallmenge, Energiekonsum und CO2-Ausstoss erfassen und ihren Mietern zuteilen, selbst wenn sie nur einige Angestellte beherbergen.
Es gibt für kleine Firmen kein Entrinnen, wie mehrere KMU-Vertreter klagen. So verlangen Konzerne von ihren Lieferanten eine vertragliche Verpflichtung, dass sie bei Klagen selber haften. Andere bestehen darauf, dass Zulieferer mit ihrem Privatvermögen für die Richtigkeit der Daten und für die Einhaltung der Vorschriften haften, wie Niclas Meyer von BSS Volkswirtschaftliche Beratung in Basel weiss. Wieder andere bieten sich als Dienstleister an, die den Kleinen bei der Bewältigung der 1001 Pflichten behilflich sind – natürlich gegen ein Beratungshonorar, wie sich ein KMU-Vertreter ärgert. Die Erfahrung von Stahlunternehmerin Diana Gutjahr: «Die Grossen reichen die heisse Kartoffel an die kleinen Zulieferer weiter.»
Das ärgert viele, doch andere freuen sich. Beratungsfirmen aus den Bereichen Reporting, Minergie, Sensorik, Juristerei, Cleantech oder Datenanalyse wittern dank Brüssel neue Aufträge in Millionenhöhe. Je granularer die Regulierung und je widersprüchlicher die Vorgaben, desto grösser das Auftragsvolumen. Auch viele Weltkonzerne nerven sich über die teure Bürokratieflut, doch sie machen lieber die Faust im Sack, weil sie auf die EU-Behörden angewiesen sind. Zudem haben sie doch die Netto-Null auf ihre Fahnen geschrieben. Einer der wenigen, die sich öffentlich äussern, ist ABB-Präsident Peter Voser. Es sei von entscheidender Bedeutung, dass Europa beim Übergang zu einer nachhaltigen, dekarbonisierten Wirtschaft eine Führungsrolle übernehme, ist er überzeugt. Doch er sagt auch: «Gleichzeitig müssen die Wettbewerbsnachteile, mit denen die Industrien in der EU aufgrund der übermässigen EU-Berichterstattungspflichten derzeit konfrontiert sind, abgebaut werden.»
Wohin dieser Eifer führt, hat mittlerweile auch die hohe Politik realisiert. Der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz fordert eine Zähmung des Bürokratiemonsters, der Grüne Robert Habeck, ehemaliger Wirtschaftsminister, sagt: «Wir haben uns eingebuddelt in einer Welt, wo am Ende die Richtigkeit der Berichterstattung darüber entscheidet, wie wettbewerbsfähig ein Unternehmen ist.» Selbst EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist aus ihrer Fantasiewelt erwacht. 2019 pries sie den Green Deal der EU noch als «Wachstumsprogramm» und forderte: «Wir müssen gross denken und gross handeln.» Jetzt vollführt sie eine wilde Pirouette und verlangt genau das Gegenteil. Mit ihrem «Omnibus Simplification Package» will sie den Bürokratieaufwand kappen, für Grossfirmen um mindestens 25 Prozent, für KMU um 35 Prozent. «Weil für diese die bürokratischen Hürden und komplexen Vorschriften besonders belastend sind.» Es ist das Eingeständnis eines Irrwegs, der zum Schaden von Firmen, Innovationskraft und Arbeitsplätzen in Europa führt. Ob sie mit ihren geplanten Rückbauplänen bei den 27 Mitgliedstaaten durchkommt, ist offen. «Es ist noch völlig unklar, wie diese Omnibus-Regulierung greifen wird», sagt Matthes von Scienceindustries.
Immerhin ist ein erster Schritt getan: Der EU-Rat hat die nationale Umsetzung der verhassten EU-Lieferkettenrichtlinie, die eigentlich bis Mitte 2026 fällig war, um ein Jahr verschoben; nun ist noch das Parlament gefragt. Darüber wird sich Diana Gutjahr bei ihrer Sonntagsarbeit freuen. Wie lange dies anhält, ist fraglich. Denn während die USA die ESG-Regulatorik kassieren und Brüssel den Rückbau einläutet, droht in der Schweiz mit der Neuauflage der Konzernverantwortungs-Initiative der nächste Regulierungsschub.