Darum gehts
- Bundesrat Beat Jans präsentiert verschärfte Schutzklausel für EU-Deal
- Vier harte Indikatoren: Nettozuwanderung, Arbeitslosigkeit, Grenzgänger, Sozialhilfequote
- Massnahmen können national, regional oder branchenspezifisch angewendet werden
Wenn die Zuwanderung aus der EU der Schweiz wirtschaftlich oder sozial zu schaffen macht, soll der Bundesrat künftig eingreifen können. Der Bundesrat hat nun festgelegt, unter welchen Bedingungen die sogenannte Schutzklausel zum Zug kommen soll. Federführend ist Migrationsminister Beat Jans (60, SP).
Konkret geht es um Schwellenwerte bei der Nettozuwanderung, der Arbeitslosigkeit und beim Sozialhilfebezug. Werden diese überschritten, kann die Schweiz prüfen, ob die Klausel aktiviert werden soll. Auch einzelne Kantone dürfen Massnahmen beantragen, wenn es regional zu Problemen kommt.
Zahlen liegen auf dem Tisch
Erst auf mehrfaches Nachhaken von Journalistinnen und Journalisten nannten Bundesrat Jans und Migrations-Staatssekretär Vincenzo Mascioli (55) beispielhafte Schwellenwerte. Diese sollen als Grundlage für die Vernehmlassung dienen – die definitiven Werte werden jedoch erst später festgelegt.
Bei der Nettozuwanderung ist der Indikator die «Zuwanderung aus der EU im Verhältnis zur ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz»: ein Plus von 0,74
Beim Indikator «Grenzgängerrate»: eine Zunahme von 0,34 Prozent im Vergleich zum Vorjahr
Beim Indikator «Arbeitslosigkeit in der ganzen Schweiz»: Zunahme von 30 Prozent
Sozialhilfequote: Zunahme von 12 Prozent
Seit 2002 wären es acht Prüfungen gewesen
Die Schutzklausel würde den freien Personenverkehr mit der EU vorübergehend einschränken und so der Zuwanderung entgegenwirken. Staatssekretär Vincenzo Mascioli wies darauf hin, dass es seit 2002 anhand der vorgeschlagenen Schwellenwerte bereits achtmal zu einer Prüfung gekommen wäre.
Bundesrat Jans betonte jedoch, die Schutzklausel sei «die letzte Verteidigungsmassnahme». Zuvor verfüge die Schweiz über verschiedene andere Absicherungen.
Mit der nun konkreteren Ausgestaltung der Schutzklausel ist das EU-Paket bereit für die Vernehmlassung im Parlament. Erste Reaktionen aus den Parteien zeigen bereits: Die Klausel dürfte noch für reichlich Diskussionsstoff sorgen.
Hier die Medienkonferenz mit Bundesrat Beat Jans und Staatssekretär Mascioli zum Nachlesen.
Das soll die neue Schutzklausel bringen
Die Schutzklausel soll es der Schweiz erlauben, die Zuwanderung vorübergehend einzuschränken. Konkret soll die Klausel ein Teil des Personenfreizügigkeitsabkommens werden.
Darin sind Schutzmassnahmen vorgeschlagen: Wenn die Nettozuwanderung, die Arbeitslosigkeit oder der Sozialhilfebezug gewisse Schwellenwerte überschreiten, kann der Bundesrat die Auslösung der Schutzklausel prüfen.
Der Bundesrat muss für die Aktivierung der Klausel schwerwiegende wirtschaftliche oder soziale Probleme in der ganzen Schweiz oder in einzelnen Regionen feststellen. Dafür sollen Schwellenwerte festgelegt werden für die Nettozuwanderung aus der EU, die Zahl der Grenzgängerinnen und Grenzgänger, die Zunahme der Arbeitslosigkeit oder die Sozialhilfequote.
Konkrete Zahlen zu diesen Schwellenwerten liefert Migrationsminister Jans aber noch nicht.
Was passiert, wenn die Schutzklausel ausgelöst wird? Der Bundesrat beantragt dann beim Gemischten Ausschuss (mit Vertretern aus der Schweiz und der EU) gewisse Schutzmassnahmen. Vorgesehen sind Höchstzahlen bei der Zuwanderung oder dem Inländervorrang. Ebenfalls im Raum steht etwa die Beschränkung des Aufenthaltsrechts bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit.
Über das Auslösen der Schutzklausel und Schutzmassnahmen darf der Bundesrat aber nicht alleine entscheiden. Er muss vorher die zuständigen Kommissionen, die Kantone und die Sozialpartner beiziehen.
GLP begrüsst die Schutzklausel
Die Grünliberalen weichen nicht von ihrem Kurs ab: Auch weiterhin unterstütze die Partei das neue Vertragspaket mit der EU. Dieses sichere unseren Wohlstand für die Zukunft. «Die Klausel gibt uns ein Werkzeug in die Hand, um regional und damit zielgerichtet auf mögliche Verwerfungen zu reagieren.»
Gewerkschaften: «Schutzklausel bringt nichts»
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund äussert sich sehr kritisch zur Schutzklausel. Der Umweg über das Schiedsgericht würde nur unnötig Zeit kosten. Ausserdem seien die Hürden vor dem Schiedsgericht sehr hoch. «Die Schutzklausel wird kein Problem lösen, sondern Probleme allenfalls verstärken.» Bundesrat und Parlament könnten soziale Probleme wie Arbeitslosigkeit nämlich bereits heute angehen, wenn sie sollten, so die Gewerkschafter.
Mitte hält sich bedeckt
Die Mitte Partei hält sich weiterhin bedeckt. Sie streicht zwar heraus, dass eine glaubwürdige Antwort auf die Fragen der Zuwanderung wichtig sei. Sie wollen allerdings die vorgeschlagenen Massnahmen noch sorgfältig analysieren und diskutieren. Die Position wollten sie erst während der Vernehmlassung zum gesamten EU-Vertragspaket darlegen.
Ist die Schutzklausel nur eine Alibiübung?
Eine weitere Frage zielt auf die Hürden ab, bis die Schutzklausel tatsächlich zur Anwendung kommen würde. Eine Abklärung würde mehrere Prüfungsinstanzen durchlaufen und wäre, gemäss Aussage von Jans, sehr aufwendig. Ein Journalist fragt deshalb, ob der heutige Bundesrat überhaupt den Mut hätte, diese Schutzklausel nicht nur zu prüfen, sondern auch umzusetzen.
«So entschlossen wie der Bundesrat das von der Delegation eingefordert hat: Ich glaube, dass der Bundesrat auch bereits ist, diese Schutzklausel zu aktivieren», antwortet Jans.
Jetzt dürfen alle Parlamentarier den EU-Deal anschauen!
Schluss mit Extrawurst: Der Bundesrat hat beschlossen, dass alle Parlamentarier den EU-Deal anschauen dürfen. Aussenminister Ignazio Cassis will damit wohl einen Schlusspunkt setzten unter eine wochenlange Debatte: Blick-Recherchen hatten gezeigt, dass einzelne Parlamentarier vorab das bislang streng geheime Vertragspaket einsehen durften.
Nach öffentlichen Diskussionen erlaubte das Aussendepartement, jeweils zwei Mitgliedern jeder Fraktion Einsicht zu nehmen. Das stiess wiederum den Aussenpolitikern des Nationalrates sauer auf, die einen geharnischten Brief an Cassis schrieben.
Nun ist klar: Alle Mitglieder der Bundesversammlung dürfen in einem Sitzungszimmer der Abteilung Europa im Aussendepartement die Entwürfe des Abkommens lesen. «Die Ratsmitglieder, die davon Gebrauch machen, unterstehen der Geheimhaltungspflicht gemäss Amtsgeheimnis.» Auch die Bevölkerung soll die Texte schon bald zu sehen bekommen. Der Bundesrat will sie noch vor der Sommerpause mit der Eröffnung der Vernehmlassung publizieren.
SP nimmt Bürgerliche in die Pflicht
Die SP begrüsst das vom Bundesrat vorgestellte Paket. Es sei ein wichtiger Schritt zur Stabilisierung der Beziehungen mit der EU. Die Partei fordert, nun rasch die Vernehmlassung zu starten. SP-Co-Chefin Mattea Meyer sagt: «Nun sind auch Mitte, FDP und die Wirtschaftsverbände gefordert, klar Stellung zu beziehen und Verantwortung zu übernehmen.»
Bundesrat mit letztem Wort
Zuvor hakte eine Journalistin nach, wer denn das letzte Wort habe, ob die Schutzklausel und damit Schutzmassnahmen tatsächlich zum Einsatz kommen würden. Schliesslich geht die Prüfung der Schutzklausel zuerst durch zahlreiche Gremien. Oder auch Kantone können eine Prüfung verlangen.
Beat Jans bestätigt aber, dass letztlich der Bundesrat über die Anwendung der Schutzklausel befinden würde.
Grünen-Mazzone unzufrieden
Grünen-Chefin Lisa Mazzone zeigt sich wenig zufrieden. Sie verweist in einer ersten Reaktion auf ein Max-Frisch-Zitat: «Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.» Mazzone sagt: «Bundesrat Jans sollte lieber Max Frisch lesen, statt erneut vor der SVP zu kuschen.» Die Schweiz brauche keine Schutzklausel, sie müsse die Menschen schützen, die hier wohnen und arbeiten.
In diesen Jahren hätte es Schutzklausel gebraucht
In welchen Jahren hätte die Schutzklausel aufgerufen werden müssen? 2002, 2003, 2008, 2009, 2011, 2013, 2020 und 2022, erklärt Vincenzo Mascioli. «Damals hätte der Bundesrat jeweils prüfen müssen, ob die Voraussetzungen für eine Anrufung erfüllt sind.»
Was ist mit den Zahlen?
Zumindest in der Botschaft würden dann die konkreten Zahlen zu den Schwellenwerten beispielhaft genannt. Diese müssten dynamisch bleiben, weil sich alle Werte jährlich veränderten, erläutert der Staatssekretär. Tatsächlich festgesetzt würden die Zahlen erst später.
Die beispielhaften Zahlen legt Mascioli offen. Sie würden eine Prüfung der Schutzklausel auslösen:
- Bei der Nettozuwanderung: Indikator ist die «Zuwanderung aus der EU im Verhältnis zur ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz»: ein Plus von 0,74
- Beim Indikator «Grenzgängerrate»: eine Zunahme von 0,34 Prozent im Vergleich zum Vorjahr
- Beim Indikator «Arbeitslosigkeit in der ganzen Schweiz»: Zunahme von 30 Prozent
- Sozialhilfequote: Zunahme von 12 Prozent
Die Zahlen seien so gesetzt worden, wie sie als sinnvoll erachtet wurden. Bundesrat Jans ergänzt: «Der Bundesrat setzt auf Transparenz und wird diese Zahlen in der Vernehmlassung offenlegen.»