Darum gehts
- Schweiz kämpft mit politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen, sucht Lösungen
- Zünfte in Zürich wandelten sich vom Elite-Feindbild zum Traditions-Safe-Space
- Böögg-Explosion beim Sechseläuten dauerte 26 Minuten und 30 Sekunden
26 Minuten und 30 Sekunden. Der Böögg lag im Nachhinein betrachtet richtig: Die lange Brenndauer bis zur Explosion seines Hauptes verhiess einen durchzogenen Sommer. Und der gebärdete sich tatsächlich zeitweise als Herbst. Unklar ist nur das Warum: Hatte der Unglückliche auf dem Scheiterhaufen eine Vorahnung von den miesen Wochen Ende Juli – oder richteten sich die Wettergötter nach dem brennenden Mann in Weiss?
Am diesjährigen Sechseläuten in Zürich am 28. April bot sich mir die Chance, die Zunft Wiedikon als Gast zu besuchen. Der Umzug und das Essen und die Reden und der Auszug und der Wein und die Gegenreden gewährten tiefe Einblicke in ein gesellschaftliches Biotop, dessen Bedeutung in den letzten Jahrzehnten einem dramatischen Wandel unterworfen war.
Vom Feindbild zum Safe Space
Noch um die Jahrtausendwende galten die Zürcher Zünfte als Basislager einer Elite, die unangefochten das Land steuert. Hier traf sich das Spitzenpersonal aus Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Militär mit nationalem Gewicht. Umso giftiger war der Spott, der den Herren auf dem hohen Ross von Intellektuellen, Linken und Büezern entgegenschoss – die Boshaftigkeiten über Staatenlenker in Strumpfhose und Perücke waren auch Ausdruck des Missmuts gegenüber den Mächtigen.
Heute begegnet den Zünften kaum noch Widerstand. Der Rechtsanwalt mit Pagenfrisur oder der Treuhänder unterm Dreispitz lösen ein ähnlich heiteres Wohlwollen aus wie ein Street-Parade-Raver in Glitzerkostüm oder Polizeiuniform. Bis tief ins progressive Milieu hegt man grossmütig Sympathien für die Zünfter – insgeheim ist man ihnen ein bisschen dankbar: In einer postmodernen Welt, die mit Höchstgeschwindigkeit in eine ungewisse Zukunft rast, ist aus dem Salon alles Vorgestrigen ein Safe Space für Lokalkolorit und Traditionen geworden.
Singapur, Dubai, London, Manhattan
Denn die Schweiz erlebte die letzten Jahrzehnte einen beispiellosen wirtschaftlichen Boom – und einen tiefen Wandel. Die Eidgenossenschaft mit ihren Hotspots Zug, Genfersee, Basel und Zürich wurde zum Fluchtpunkt auf der Weltkarte der New Economy. Hoch bezahlte Söldner im Dienste der IT- und Finanzwirtschaft reichern in der Alpenrepublik ihr CV an.
Das Business wird auch hierzulande von einer transnationalen Kaste von Managern aus einer Sphäre zwischen Singapur, Dubai, London und Manhattan bevölkert. Die Neuankömmlinge bringen Internationalität, eine neue Geschäftskultur und finanzielle Potenz mit – und interessieren sich weder für die Feinstofflichkeit des politischen Systems noch für die gesellschaftlichen und kulturellen Eigenheiten ihres Gastlands.
Diese Standortpolitik beschert den linksgrünen Städten und den konservativen innerschweizerischen Kantonen reichlich Zaster – und befeuert die gesellschaftlichen Fliehkräfte. Was sich heute bitter bemerkbar macht: Ohne die grosse Klammer einer unbestrittenen nationalen Identität bewegen sich die lokalen Akteure im Blindflug.
Der FDP-Präsident sucht das Weite
Die einst tonangebende FDP – kein anderes Staatswesen neben den USA hatte den Liberalismus tiefer im politischen System verankert – erodiert mit Beständigkeit. Ein Teil ihrer Klientel wanderte zur SVP ab, die mit grossem Erfolg Denkschablonen feilbietet. Ein anderer gibt sich kosmopolitisch und hat seinen Radius weit über die Landesgrenzen ausgedehnt, informiert sich via Bloomberg und «Financial Times» und kennt Bundesbern höchstens noch als Schimpfwort.
Da wirkt es wie ein Menetekel, dass der Aargauer FDP-Ständerat Thierry Burkart (49), einst vielversprechender Newcomer in der Bundesstadt, derzeit Parteipräsident, mitten in diesen unruhigen Zeiten das Weite sucht. Der Freisinn segelt kopflos durch die Gegenwart.
Infantilisierung der Politik
Die Schrumpfung der früheren Staatspartei aufs Mittelmass zeigt sich auch bei der Suche eines Nachfolgers, die derselben Mode folgt wie zuvor bei Mitte und SP: Die Absage einer Kandidatur wird zum Medienevent zwecks Steigerung der kurzfristigen Aufmerksamkeit. In der Regel legt der Nichtkandidat eine mehrwöchige Kunstpause ein, um dann mit Brimborium sein Desinteresse zu vermelden – jeweils nach «reichlicher Überlegung». So taten es vergangene Woche auch der Luzerner Ständerat Damian Müller (40) in der SRF-«Tagesschau» und der Zürcher Nationalrat Andri Silberschmidt (31), der die Welt via Tamedia-Zeitungen wissen liess: «Für meine Lebenssituation ist es heute einfach zu früh.» Aha.
Die Infantilisierung des Parlaments wird begleitet von einer politischen Exekutive im Schlafwandlermodus. Die volkswirtschaftlich bedrohliche Fehleinschätzung im Zoll-Streit mit US-Präsident Donald Trump (79) ist das Resultat langjährigen Missmanagements.
Die Mitwirkenden beim 39-Prozent-Debakel waren eine entfremdete Managerkaste ohne Sinn für politische Seismik, eine öffentliche Verwaltung mit der Angewohnheit, ihr Image mit üppigen Kommunikationsapparaten aufzupolieren, sowie die Arroganz eines Beamtenstaats, in dem Scheitern nicht einmal als Option zugelassen ist. Ein Ausdruck davon ist, dass der Bund, der sonst reflexartig externe Berater engagiert, seit Trumps Zoll-Drohungen nie eine US-Lobbyfirma engagiert hat, die Kontakte in Washington knüpfen könnte. Eine Entscheidung nach dem Motto: Irren können wir uns auch selbst.
Eine Petition vom mächtigsten Wirtschaftsverband
Während sich die Schweiz jahrzehntelang in den geordneten Bahnen der kontrollierten Wohlstandsvermehrung in einer bipolaren Welt bewegen konnte, scheitert die politische Führung heute am transatlantischen Chaos. Improvisieren ist angesagt – bis auf die höchste Stufe. Das spiegelt sich auch im eiligst zusammengestellten «Team Switzerland», der Beratergruppe aus Schweizer Wirtschaftskapitänen, die Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter (61) bei ihrem Notfalleinsatz nach Washington begleitete. Dass die Private-Equity-Firma Partners Group gleich mit zwei Gründungsmitgliedern vertreten war, gibt zumindest Anlass zu Spekulationen.
Tief blicken lässt auch die Reaktion der Swissmem auf Trumps Zölle, die nun auf allen Ebenen mit Herzblut lobbyiert. Zu den etwas seltsamen Massnahmen des Schweizer Industrieverbands gehört eine Petition zum Schutz des Standorts, die vergangene Woche lanciert wurde: «Handeln Sie jetzt, stärken Sie gezielt unsere KMU!» Eine Petition ist das schwächste aller politischen Instrumente, ein unverbindlicher Appell. Gewöhnlich machen Gruppierungen wie Hunderetter, Schülerkomitees oder Strahlungsgegner davon Gebrauch. Dass auch der mächtigste Schweizer Wirtschaftsverband darauf zurückgreift, sagt viel über den Zustand der Alpenrepublik aus.
Bundesrat liess sich von Joe Biden über den Tisch ziehen
Improvisieren ist auch in einem anderen Dossier gefragt: Nach dem unrühmlichen Abgang von VBS-Chefin Viola Amherd (63) kommen mit deprimierender Regelmässigkeit neue Ungereimtheiten zum Kauf des F-35 ans Tageslicht. Diese Woche streckte der Bundesrat die Waffen, nachdem die Amerikaner plötzlich 1,3 Milliarden Franken mehr für ihre Kampfjets verlangen als den vereinbarten Kaufpreis. «Die Schweiz muss bei der Beschaffung der F-35-Kampfjets Mehrkosten akzeptieren», wird in Bundesbern nüchtern verlautbart. Der Bundesrat hadert nicht erst seit Trumps Wiederwahl mit den USA – er liess sich schon vom Demokraten Joe Biden (82) über den Tisch ziehen.
Mantramässig hatte die Walliser Magistratin gegenüber Volk und Parlament versichert, es handle sich um einen verbindlichen «Fixpreis» von 6 Milliarden Franken. Sie stützte sich dabei auf ein Gutachten der Zürcher Nobelkanzlei Homburger. Nun bemüht sich Amherds Nachfolger Martin Pfister wacker um Schadensbegrenzung. So beflissen er auch agiert – das Vertrauen in die Institutionen ist arg ramponiert. Der Kaiser steht nackt da.
Einen hoffnungsvollen Ausweg gibt es
Bei der nationalen Nabelschau wird das vielleicht unangenehmste Dossier verdrängt: Europa. Die Befürworter der Bilateralen III wären nach dem Zoll-Debakel eigentlich im Vorteil – doch wo sind die Führungsfiguren, die den Souverän vom nächsten Schritt in Richtung Brüssel überzeugen sollten? Wer durchbricht die kollektive Hypnose der EU-Gegner mit ihren ewig gleichen Narrativen? Wer führt die FDP durch diese nicht enden wollende Debatte? Taugt Aussenminister Ignazio Cassis (64) als Zugpferd der Europafreunde? Und wie stehen eigentlich die Kompass-Initianten zur SVP-Neutralitäts-Initiative? Viele Fragen warten dieser Tage in Bern auf eine Antwort.
Europapolitisches Wachkoma, Schiffbruch in Amerika, Lebenslügen als Survival-Programm – die Rückschläge für die Schweiz häufen sich in beunruhigendem Ausmass. Die Folge ist ein Teufelskreis aus Überdruss in der Bevölkerung, gesellschaftlicher Fatigue und zunehmender Stärkung der Zentrifugalkräfte.
Ein hoffnungsvoller Ausweg ist in Sichtweite: Drohender Wohlstandsverlust erhöht die Kreativität bei der Suche nach Lösungen, Ungemach von aussen und innen wirkt dabei als Ansporn. In dieser Disziplin gehörte die Schweiz über Generationen hinweg zur Spitzenklasse. Die Bündelung von Interessen, die Kooperation mit Gleichgesinnten, die Sicherung der eigenen Freiheit – es ist der Geist, aus dem einst auch die Zünfte entstanden.