«Möchte den Schwerpunkt wieder auf die Sachpolitik legen»
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Thierry Burkart zum Rücktritt:«Möchte den Schwerpunkt wieder auf die Sachpolitik legen»

So kam es zum Rücktritt des FDP-Chefs
«Ich bin allmählich am Ende meines Lateins»

FDP-Präsident Thierry Burkart räumt das Feld. Zuvor verschärften sich die parteiinternen Spannungen – wegen zwei Themen: Migration und Europa. Der vorläufige Sieger heisst Ignazio Cassis.
Publiziert: 00:01 Uhr
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Aktualisiert: 09:07 Uhr
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«Immer jemand, der gescheiter ist als der Rest»: FDP-Präsident Burkart in einem internen Mail.
Foto: keystone-sda.ch

Am Dienstagnachmittag, 14.35 Uhr, verschickte Thierry Burkart (49) eine «persönliche Mitteilung». Im Mail kündigte er seinen Rücktritt als FDP-Präsident an und zählte Verschiedenes auf, was seine vierjährige Amtszeit geprägt hat – den Kampf für die «liberale Sache», den Austausch mit den Bürgern «dieses einzigartigen Landes». Aber auch sein verstärktes Bedürfnis nach «Sachpolitik» und seine Freude, «wieder mehr Zeit für die Kommissionsarbeit» zu haben. Nur zwei Themen erwähnte der Absender mit keinem Wort: Migration und Europa.

Liegt Burkarts pompöses Verschweigen, die fette Auslassung, der grosse Bogen um die beiden heissen Eisen an seinem inhaltlichen Desinteresse? Nachweislich nicht – Burkart hat die migrationspolitische Gangart des Freisinns deutlich verschärft; letztes Jahr warf er dem Staatssekretariat für Migration wegen eines Instagram-Beitrags vor, Asylsuchende in die Schweiz zu locken. Dazu gehört Burkart zu den mittlerweile rund zehn Parlamentariern, die den fertig ausgehandelten Vertrag mit der Europäischen Union eingesehen haben.

«Die Vernehmlassungsantwort war ein Fehler!»

Migration und Europa – in beiden Dossiers hatte der scheidende Präsident mit Intrigen und Spannungen zu kämpfen. Ein Beispiel: Im letzten Dezember entfachte eine Diskussion um die Haltung des Freisinns gegenüber Vorstössen aus der SVP, den Familiennachzug für vorläufig Aufgenommene zu verbieten. Die FDP sprach sich dafür aus; der Zuger Ständerat Matthias Michel (62) allerdings wies die Leitung auf die Vernehmlassungsantwort der Partei hin, in der Kritik zum Ansinnen ertönt war. Was der FDP-Präsident gar nicht goutierte. In einem geharnischten Mail an seinen Parteikollegen schrieb Burkart am 17. Dezember: «Die Vernehmlassungsantwort war im Nachhinein gesehen ein Fehler!»

Überdies entspreche das Verbot des Familiennachzugs dem Willen der Delegiertenversammlung im Tessin, betont Burkart im Schreiben, das SonntagsBlick vorliegt, und meinte giftig an Michels Adresse: «Du warst nicht zugegen und hast Deine Haltung nicht eingebracht.» Worauf er grundsätzlich wird: «Ich muss schon sagen, dass ich allmählich am Ende meines Lateins bin. Immer, wenn wir uns als Partei unser Profil schärfen (...) und uns klar positionieren (und der Beschluss in der DV war sowjetisch), schaffen wir es, dass in der konkreten Umsetzung im Parlament es immer Leute von uns gibt, die sich nicht an die Positionen unserer Basis orientieren.» Es gebe «immer jemanden, der halt einfach gescheiter ist als der Rest» und mit «Winkelzügen» seine Position vor diejenige der Partei setze. In vielen Themen sei das nicht so relevant – «in diesem Politikfeld, zu dem wir unter grosser Beachtung der Öffentlichkeit eine klare Position bezogen haben, aber schon!»

Burkarts kritische Fragen an den Chefunterhändler

Das Mail zeugt davon, wie heikel es ist, eine Volkspartei durch eine emotional derart aufgeladene Debatte zu navigieren. Burkart hatte auch keine Lust mehr, in der Sicherheitspolitik zwischen Hammer und Amboss zu geraten. Zu Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine profilierte er sich als Sicherheitspolitiker und trieb die anderen Parteien vor sich her. Als das Armeebudget dann tatsächlich erhöht werden sollte, kuschte Burkart vor FDP-Finanzministerin Karin Keller-Sutter (61). Das Amt als Präsident der Allianz Sicherheit Schweiz hat er inzwischen abgegeben. «Das Verdienst von Thierry Burkart war die Forderung, ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis 2030 der Armee zur Verfügung zu stellen. Bedauerlicherweise wurde dieses Ziel nicht erreicht», kritisiert Stefan Holenstein (63), Präsident des Verbands Militärischer Gesellschaften Schweiz.

Hinzu kommt das Europadossier. Vor kurzem war Burkart bei Chefunterhändler Patric Franzen (55) und soll den Text besonders genau, mit der Präzision eines Juristen, studiert haben. Über ein Dutzend Fragen hat sich der Gast notiert, die er sich vom anwesenden Diplomaten Franzen beantworten liess. Der pries sein Verhandlungsergebnis an, etwa den Umstand, dass die Bauern von jeglichen Massnahmen seitens Brüssel verschont bleiben, dass der Bereich möglicher künftiger Rechtsübernahmen dramatisch enger sei als beim gescheiterten Rahmenabkommen von 2021 und der Modus der Streitbeilegung der Schweiz mit der aufschiebenden Wirkung sehr weit entgegenkomme. Burkart lobte die Leistung der Schweizer Verhandlungsseite, verblieb mit einigen kritischen Bemerkungen zum grundsätzlichen Problem der dynamischen Rechtsübernahme und zog von dannen. Und jetzt, nur kurze Zeit später, hat er seine Demission als FDP-Präsident angekündigt.

Zwar relativiert Burkart im persönlichen Gespräch die Rolle des EU-Dossiers bei seinem Entscheid, das Präsidium abzugeben. Er habe genug von der Exponiertheit, von der verhärteten Parteipolitik und der Personalisierung in den Medien. Doch setzt Burkart, der in der Armee den Rang des Hauptmanns bekleidet, seine Schritte wohlüberlegt. Er redet gerne im Militärjargon, bei ihm fallen häufig Worte wie Geländekammer, Ziel und Strategie.

«Ich habe sicher Fehler gemacht»
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Thierry Burkart selbstkritisch:«Ich habe sicher Fehler gemacht»

Rücktritt bei der Europa-DV

Sein Absprung nach dem Verhandlungsabschluss erscheint von aussen betrachtet denn auch logisch. Hat der Taktierer spätestens jetzt gemerkt, dass die Führungsaufgabe in der Europafrage noch schwieriger wird? Noch vor den Sommerferien will der Bundesrat die 35 Gesetze, die aus dem Deal resultieren, in die Vernehmlassung bringen. Dann beginnt die heisse Phase, die dereinst in einer schicksalhaften Abstimmung gipfeln wird.

Die Verknüpfung mit dem Europadossier wird durch das Datum von Burkarts Abgang besiegelt: Der soll am 18. Oktober erfolgen, wenn die freisinnigen Delegierten ihre Haltung zum EU-Vertrag beschliessen werden.

Burkart hatte sich innerhalb seiner Partei als Opponent zu einer EU-Annäherung profiliert. Seiner Vorgängerin Petra Gössi (49), die damals für das institutionelle Rahmenabkommen weibelte, fiel er mit dem Plädoyer für einen «Übungsabbruch» in den Rücken. Und jetzt sollte derselbe Thierry Burkart eine europapolitische Annäherung an Brüssel vertreten? Vor diesem Spagat bleibt er nun verschont.

Einen Vorgeschmack gab es im März, als sich Aussenminister Ignazio Cassis (64) in einem Mail beim Parteichef mit deutlichen Worten beschwert hatte, dass er sich in dem Dossier mehr Rückendeckung wünscht. Anlass für das Schreiben, über das SonntagsBlick berichtete, war die Einigung mit den Sozialpartnern beim Lohnschutz durch das Wirtschaftsdepartement. In Cassis’ Augen wurde dies von der FDP zu wenig gewürdigt. «Er war wie von der Rolle», kommentiert ein Freisinniger die Intervention des Magistraten.

Mit der Obsession eines Captain Ahab

Parallel zu Burkarts Flucht vor der europapolitischen Mühsal stellen Insider eine bemerkenswerte Entwicklung bei Cassis fest: Seit geraumer Zeit beginnt sich der Tessiner mit wachsender Entschlossenheit auf das EU-Dossier zu fixieren.

Während sein Parteichef rückwärts das Feld verlässt, kniet sich der Aussenminister immer tiefer in das Dossier ein; über 100 Sitzungen zum Thema hatte Cassis geleitet, 80 Leute aus über 20 Bundesämtern waren involviert. Er sei darin so sattelfest, heisst es, wie es für Departementsvorsteher unüblich sei. Vielleicht träumt er nachts davon. Mit der rasenden Obsession eines Captain Ahab boxt der EDA-Chef sein Prestigeprojekt an seinen tatsächlichen und vermeintlichen Gegnern vorbei, die von den SVP-Hardlinern bis zu freisinnigen Parteifreunden reichen.

Zu Finanzministerin Karin Keller-Sutter bleibt er argwöhnisch auf Distanz; überhaupt weckt die EU-kritische Gruppe in der Partei seinen Unmut – dazu gehören die ewige Nachwuchskraft Christian Wasserfallen (43), der Nidwaldner Ständerat Hans Wicki (61), der im Initiativkomitee der Kompass-Initiative sitzt, oder der Zürcher Kantonalpräsident und Stadtrat Filippo Leutenegger (72).

Rücktritt hat auch eine private Dimension

Über private Beweggründe möchte Burkart nicht sprechen, aber aus seinem Umfeld ist zu hören, dass sein Rücktritt auch eine private Dimension hat: Thierry Burkart wird im August 50, dazu kommen die geplatzte Hochzeit und die Trennung von seiner Partnerin letztes Jahr. Anders als seinen vierzigsten Geburtstag, den er gross feierte, sei für seinen Fünfzigsten nichts Grosses geplant. Burkart gilt als verlässlich, aber auch als dünnhäutig. Nach 33 Jahren Politik – er politisiert, seit er 16 ist – wolle er sein Leben umkrempeln und nicht mehr jeden Abend weg sein, um sich für die Partei aufzuopfern.

Mit seinem Abgang geht Burkart auch einem verschärften Konflikt mit seinem eigenen Bundesrat aus dem Weg. Der Wechsel ist ein Etappensieg für Cassis. Erst recht, wenn jemand Europhiles wie Damian Müller (40) oder Susanne Vincenz-Stauffacher (58) die Nachfolge antreten sollte. «Der richtige Zeitpunkt für den Führungswechsel ist jetzt», schreibt Burkart in seiner Mitteilung vom Dienstag. Je nach Sichtweise hat er recht.

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