Schweizer Botschafter in Israel
«Die offiziellen Parteien schreien aneinander vorbei»

Seit einem Jahr ist Simon Geissbühler Schweizer Botschafter in Tel Aviv. Auch wenn Netanyahu Fakten schafft, ist der Diplomat überzeugt: «Endloser Krieg ist keine Zukunftsvision.»
Publiziert: 10:02 Uhr
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Aktualisiert: 10:32 Uhr
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Simon Geissbühler ist Schweizer Botschafter in Tel Aviv.
Foto: Zvg

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Raphael RauchBundeshausredaktor

Herr Botschafter, am Montag beginnt das jüdische Neujahrsfest. Wie pessimistisch starten Sie ins neue Jahr?
Simon Geissbühler:
Mir gefällt das hebräische Wort Tikwa – es bedeutet Hoffnung. Wörtlich meint Tikwa, dass verschiedene Fäden zu einem Strang gebunden werden. Hoffnung ist nichts Passives, sondern Sie müssen die Fäden in die Hand nehmen und zusammenführen. Hoffnung hat mit Handeln zu tun – das finde ich schön.

Geopolitisch gibt es aber keinen Hoffnungsschimmer. Was tun Sie, um nicht zynisch zu werden?
Als Botschafter in Tel Aviv bin ich auch Krisenmanager und muss einen kühlen Kopf bewahren und realistisch sein. In den internationalen Beziehungen gibt es keine Wohlfühloasen mehr. Es brennt überall – darauf müssen wir aussen- und sicherheitspolitische Antworten finden. Bei menschlichem Leid dürfen wir nicht abstumpfen. Das Schicksal der Menschen in Gaza und der 50 verbleibenden Geiseln berührt mich sehr.

In Ihren Memos sollen Sie die israelische Politik scharf kritisiert und den Bundesrat zum Umdenken bewegt haben. Wie haben Sie das geschafft?
Das trifft so nicht zu. Bei den Memos geht es nicht um Kritik an der israelischen Politik, sondern darum, faktentreu zu berichten und Zusammenhänge aufzuzeigen. Es ist Kernaufgabe jeder Botschaft, über die Entwicklungen im Gastland zu berichten und Empfehlungen zu machen. In Bern musste auch niemand zum Umdenken bewegt werden. Die Schweizer Position ist seit langem bekannt und prinzipientreu.

Das sehen viele anders. Frankreich und Grossbritannien wollen Palästina anerkennen, die Schweiz lehnt das ab. Warum?
Die Schweiz findet, eine Anerkennung soll dann erfolgen, wenn diese einen positiven Effekt für die Zwei-Staaten-Lösung hat. Dies ist im Moment nicht der Fall.

Israels Premier Netanyahu nimmt den Gazastreifen ein und lässt weitere Siedlungen bauen. Müssen wir uns von der Zwei-Staaten-Lösung verabschieden und davon ausgehen, dass es keinen Frieden gibt?
Im Moment gibt es keinen Friedensprozess. Am 7. Oktober 2023 hat die Hamas 1200 Menschen ermordet, 250 verschleppt und hält noch immer 50 Geiseln. In Gaza sterben jeden Tag Menschen. Die Situation ist katastrophal. So gesehen bleibt wenig Hoffnung. Und trotzdem ist endloser Krieg keine Zukunftsvision. Viele Menschen sehnen sich nach Frieden.

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Sie haben früher die Abteilung Frieden und Menschenrechte geleitet. Selbst in schwierigen Situationen öffnen sich Zeitfenster für Verhandlungen. Was kann die Schweiz machen?
Es ist unser Verfassungsauftrag, uns für das friedliche Zusammenleben der Völker einzusetzen. In Europa gab es jahrhundertelang Kriege, und trotzdem hat es politische Leadership geschafft, Konflikte zu beenden. Funktioniert hat das aber nur, weil auch die Bevölkerung Frieden wollte. Friede ist auch im Nahen Osten möglich, auch wenn es dafür aktuell wenig Hoffnung gibt, weil Angst und Hass herrschen. Das betrifft auch andere Regionen.

Wie meinen Sie das?
Das letzte umfassende Friedensabkommen war 2016 in Kolumbien. Seitdem haben sich die tektonischen Platten der Geopolitik weiter verschoben, und die Bereitschaft, Frieden zu schliessen, nahm ab. Wir sehen weltweit immer mehr Kriege und Konflikte. Diese dauern länger, werden komplexer und unnachgiebiger geführt.

Welches Werkzeug der Schweizer Diplomatie könnten Sie in Tel Aviv anwenden?
Wir bieten unsere Guten Dienste an, aber solange die Konfliktparteien nicht wollen, bringt das nichts. Wir leisten wichtige humanitäre Hilfe. Und wir versuchen, etwas gegen die Negativspirale zu machen, in der sich die ganze Region befindet. Von Eskalation profitieren nur die Extreme.

Was tun Sie konkret?
Die offiziellen Parteien schweigen einander an oder schreien aneinander vorbei. Deshalb müssen wir im Kleinen ansetzen. Als Schweiz schaffen wir Räume, um Leute zusammenzubringen, die Ideen entwickeln und wieder Vertrauen aufbauen können. Das funktioniert diskret im Hintergrund. Wir laden auch ganz bewusst Menschen ein, an die man nicht sofort denken würde.

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Bislang hat Katar zwischen Israel und der Hamas vermittelt. Nach dem israelischen Angriff auf Katar: Könnte die Schweiz einspringen?
Die Schweiz wird dann aktiv, wenn die Parteien dies wünschen. Im Moment gibt es keine Anfrage.

Vor mehr als 20 Jahren hat die Schweiz die Genfer Initiative lanciert. Ausser einem 500-Seiten-Papier hat sie wenig gebracht. Wirds Zeit für eine neue Genfer Initiative?
Ich widerspreche Ihnen: Die Genfer Initiative war ein Erfolg, weil sie ein Grundlagendokument formuliert, wie eine Friedenslösung ausschauen könnte. Das Dokument existiert, die Konfliktparteien können es jederzeit aus der Schublade holen und aktualisieren. Aber ich bin einverstanden, dass wir etwas Neues machen müssen. Genau deshalb wurde die Finanzierung eingestellt, und wir haben innovative neue Initiativen angestossen.

Verübt die israelische Regierung in Gaza einen Genozid?
Wir nehmen den Bericht der Kommission zur Kenntnis, der diese Woche dem Uno-Menschenrechtsrat vorgelegt wurde. Aus Schweizer Sicht muss der Internationale Strafgerichtshof (IGH) diese Frage beantworten. Und wir setzen uns auf allen Ebenen dafür ein, dass das Völkerrecht eingehalten wird.

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Das ist Netanyahu aber ziemlich egal. Der IGH wirft ihm Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor – und nichts passiert. Sind Sanktionen eine Option?
Das muss die Politik entscheiden, ist aber im Moment kein Thema und käme einer Praxisänderung gleich. Das Parlament hat letzte Woche deutlich entschieden, dass sich die Schweiz den EU-Sanktionen gegen gewalttätige israelische Siedler nicht anschliessen soll.

Christen werden in Jerusalem bespuckt, die einzige katholische Kirche in Gaza wurde sogar bombardiert. Wird die israelische Gesellschaft nicht nur islamophober, sondern auch antichristlicher?
Der Schutz von Minderheiten ist eine Priorität unserer aussenpolitischen Strategie. Ich war bei den Drusen im Norden Israels, bei den Beduinen im Negev und habe die beiden tscherkessischen Dörfer in Israel besucht – das ist eine Ethnie, die ursprünglich vom Kaukasus stammt. Auch die Situation der Christen verfolgen wir eng, ich habe kürzlich den Bischof der melkitischen griechisch-katholischen Kirche getroffen.

Beunruhigt Sie der wachsende Antisemitismus?
Ja. Wenn man die Politik einer Regierung nicht gut findet, dann soll man diese Politik kritisieren. Aber es kann nicht sein, dass man deshalb Synagogen schändet oder Jüdinnen und Juden angreift. Antisemitismus ist ein gesellschaftliches Problem, das etwas über unsere Demokratie aussagt und daher alle angeht. Es ist brandgefährlich, Antisemitismus zu entschuldigen oder zu beschönigen.

Sie sensibilisieren Ultraorthodoxe, bevor sie in der Schweiz Ferien machen. Was hat es damit auf sich?
Die Schweizer Berge sind ein beliebtes Ferienziel von ultraorthodoxen Juden. In der Vergangenheit kam es immer wieder zu Missverständnissen, die zu Skandalen geführt haben.

Zum Beispiel, als eine ultraorthodoxe Frau im langen Gewand im Pool badete oder eine Familie Sitze in einer Bergbeiz blockierte, aber nichts bestellte. Bieten Sie einen Schweiz-Knigge an?
Die ultraorthodoxe Community ist sehr divers. Ich habe verschiedene Reisebüros und Rabbiner eingeladen. Es geht darum, sich kennenzulernen und zu erklären, was in der Schweiz zum Problem werden könnte. Und dann erarbeiten wir zusammen Lösungen, zum Beispiel: An einem Tag in der Woche wird ein Schwimmbad für ultraorthodoxe Frauen reserviert. Oder: Wer in einer Beiz sitzt, muss etwas bestellen. Es wird weiterhin Konflikte geben, aber vielleicht können wir so den einen oder anderen Skandal verhindern. Das ist typische Schweizer Vermittlungsarbeit.

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