Klarere Haltung gegenüber Israel gefordert
Schweizer Botschaft macht Druck auf Cassis

In Gaza verhungern Kinder, in Israel bangen Angehörige der Hamas-Geiseln um ihre Liebsten. Wie soll sich die Schweiz da positionieren? Der EDA-Chef hangelt sich derzeit durch sein schwierigstes Dossier – während sein Diplomat in Jerusalem eine härtere Linie verlangt.
Publiziert: 00:01 Uhr
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Ritt auf der Rasierklinge: Aussenminister Ignazio Cassis.
Foto: keystone-sda.ch

Darum gehts

  • Cassis balanciert zwischen Neutralität und humanitärer Hilfe im Nahost-Konflikt
  • Die Nichtteilnahme am Appell der 22 Staaten an Israel brachte ihm Kritik ein
  • Am Freitag rief er Israel dazu auf, Hilfslieferungen zuzulassen
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Wie schade, dass Be’eri nicht in der Schweiz liegt, «wo jeder Bürger eine Waffe zu Hause hat», meinte Michel Houellebecq (69) am Donnerstag bei einem Besuch des israelischen Kibbuz, in dem Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 mehr als 130 Menschen abschlachteten und 250 als Geiseln verschleppten. Dann fantasierte der französische Skandalschriftsteller darüber, dass Europa vielleicht mal einen «guten Krieg» nötig habe, «um die Lust am Leben wiederzufinden» – der begnadete Fabulierer in der Pose des eiskalten Kulturkämpfers.

Die Episode, festgehalten von der «NZZ», steht in ihrem Wahnwitz für die Überforderung des Westens mit dem Konflikt im Heiligen Land, der in 18 Monaten seit dem blutigen Überfall in jeder Hinsicht dramatischer geworden ist. Israels Streitkräfte haben Gaza in Schutt und Asche gelegt und in moralisches Niemandsland verwandelt, dessen Bevölkerung unter der Knute der Hamas dahinvegetiert. Zugleich lebt sie in täglicher Angst vor den Bombenangriffen einer Regierung, die sich über das Völkerrecht hinwegsetzt und die Taktik der Hungerblockade anwendet, einer Kriegsmethode aus den dunkelsten Tagen der Menschheit. Das Kabinett von Benjamin Netanyahu (75) argumentiert, die Hilfsgüter würden in den Händen der Terrormiliz landen.

Erst auf Druck der USA hat Israels Premier nach drei Monaten eingelenkt und neue Lieferungen gewährt – am ersten Tag waren es fünf Lastwagen, von denen zwei mit Leichensäcken gefüllt gewesen sein sollen. Die grösste Sorge von Netanyahus Kriegskabinett besteht darin, dass sich die Soldaten der israelischen Armee mit Krätze anstecken, die in Gaza unter den ausgezehrten Kindern grassiert.

Zehntausende Tote

Schon 50’000 Tote hat die Eskalation gefordert, täglich werden es mehr. Und noch immer sollen mehr als 50 israelische Geiseln sich in der Gewalt der Palästinenser befinden. Am Donnerstag erschoss ein Aktivist zwei jüdische Mitarbeiter der israelischen Botschaft in Washington. Die Saat des Hasses gedeiht.

Die Ereignisse erreichen auch Ignazio Cassis (64), den Aussenminister des Depositarstaats der Genfer Konvention. Doch der EDA-Vorsteher hat kaum eine Option, mit der er glänzen könnte. Ohnehin gleicht die Nahostpolitik für den Tessiner einem Ritt auf der Rasierklinge. Hierzulande macht sich das Sterben im Heiligen Land auch in kurioseren Auswüchsen bemerkbar, von der Diskussion über eine ESC-Teilnahme Israels bis hin zu helvetischen Helden im Schlafrock, die aus ihrer Schweizer Wohnstube heraus die betroffene Bevölkerung auf beiden Seiten via Social Media mit Empfehlungen und Ratschlägen zu belehren wissen.

Der Manövrierraum von Cassis ist durch Untiefen geprägt. Glorreiche Tage kommen für ihn erst später – 2026 wird er für die Schweiz die OSZE-Präsidentschaft übernehmen, 2027 wartet das Bundespräsidium. Zunächst jedoch muss sich der Freisinnige mit Fragen wie jener beschäftigen, ob er sich einem Appell von 22 westlichen Staaten anschliesst, die mehr Hilfe für die notleidende Bevölkerung in Gaza fordern. Der Magistrat hatte darauf verzichtet, was ihm Protest von links und von NGOs eintrug.

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Schweizer Botschafter macht Druck auf Israel

Überhaupt sieht er sich Pressionen von allen Seiten ausgesetzt, auch von innen: Der Schweizer Botschafter in Tel Aviv Simon Geissbühler (52) – sonst durchaus Israel-freundlich – schlägt wegen der humanitären Katastrophe Alarm, hat bereits mehrere Memos in die Zentrale nach Bern geschickt, in denen er von Cassis mehr Druck auf die Regierung Netanyahu fordert. Die letzte Depesche dazu versandte Geissbühler Anfang vergangener Woche. EDA-Kreise bestätigen dies gegenüber Blick. Und zuvor hatte das Aussendepartement aufgrund des militärischen Vorgehens von Israel Ifat Reshef (57) einbestellt, Jerusalems Botschafterin in Bern.

In dieser schwierigen Lage sieht sich Cassis erst recht gezwungen, zwischen dem Selbstverständnis eines neutralen Landes und den Werten der Schweiz als Geburtshelferin der Menschenrechte zu balancieren. Und er macht, wofür er in Bern immer wieder kritisiert wird: Er laviert.

Den von Grossbritannien lancierten Aufruf der zweiundzwanzig hat er bis heute nicht unterschrieben. Zugleich appellierte der Aussenminister am Freitag im Tessin mit auffallend deutlichen Worten an den jüdischen Staat: Humanitäre Hilfe sei keine Option, sondern Pflicht, «und diese Pflicht gilt auch für Israel».

Cassis schickt Sprecher vor

Der bemerkenswerte Auftritt in der Südschweiz wirft die Frage auf, ob hier der aussenpolitische Taktierer spricht – oder Cassis, der Arzt, der sich der Rettung von Menschenleben verpflichtet hat. Sicher ist: Wenn es brisant wird, setzt der Chef auf «low profile». Am Mittwoch, nachdem der Bundesrat 20 Millionen Franken für die Palästinenser bewilligte, gab es keine Medienkonferenz. Und in die RTS-Debattensendung «Infrarouge» schickte Cassis seinen Sprecher Nicolas Bideau (55).

Eines allerdings sei klar, so ein EDA-Vertreter zu Blick: «Netanyahu hört sowieso nur auf einen: auf den US-Präsidenten.»

Kompliziert wird die Sache durch die «Gaza Humanitarian Foundation» (GHF), eine geheimnisvolle Stiftung, die Anfang Jahr in Genf gegründet wurde. Die GHF soll als Vehikel für die amerikanischen und israelischen Pläne dienen, um eine eigene Hilfsaktion zu starten. Plötzlich dient die Schweiz als Angelpunkt für Bestrebungen, die Uno als Akteur im Nahen Osten auszuschalten – und wird unfreiwillig zum Schauplatz der Weltpolitik.

Welche Rolle hat Bern dabei gespielt? Man sei nicht involviert gewesen, beteuert das EDA – doch der Departementschef wolle Aktionen nicht von vornherein verhindern, die Menschen helfen könnten. Wieder entsteht eine Unschärfe, die Interpretationen für Freund und Feind offenlässt: Handelt da der kühle Stratege Cassis, der es mit den Amerikanern nicht verscherzen möchte, oder der pragmatische Mediziner, der einfach möglichst schnell das Elend stoppen will? Letzteres, beteuert sein Umfeld.

Bei seiner Reise ins Kriegsgebiet wurde Michel Houellebecq anlässlich einer Preisverleihung von den Veranstaltern als «wahrer Freund Israels» gerühmt. Vielleicht wäre Ignazio Cassis für Israel trotz allem der bessere Freund.

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