Darum gehts
- Kantonale Mindestlöhne könnten durch tiefere GAV-Löhne ersetzt werden
- Betroffene befürchten Lohneinbussen und eine Verschlechterung ihrer Lebensqualität
- Der Genfer Mindestlohn beträgt derzeit rund 24.50 Franken pro Stunde
Cyril Ding (29) hat seit zehn Jahren ausgelernt. Trotzdem lebt der Coiffeur in einer Studentenwohnung: Schlafzimmer, Küche, Bad. Mehr kann er sich im teuren Genf nicht leisten. Dabei schneidet er die Haare in jenem Viertel, wo die Vereinten Nationen in prunkvollen Sälen tagen.
Ding verdient den Mindestlohn, den der Kanton Genf 2020 eingeführt hat. Aktuell etwas weniger als 24.50 Franken pro Stunde, das macht rund 4500 Franken im Monat. Doch dieser knappe Lohn steht auf der Kippe.
Im Sommer beschloss der Nationalrat, die kantonalen Mindestlöhne zu kappen – zumindest dann, wenn Gewerkschaften und Arbeitgeber in einem Gesamtarbeitsvertrag (GAV) tiefere Löhne vereinbart haben und der Bundesrat diese als für alle Firmen der Branche verpflichtend erklärt hat. Die Empörung war gross. Der Vorschlag kam von Mitte-Ständerat Erich Ettlin (63, OW). In dieser Woche berät die zuständige Ständeratskommission darüber.
«Wenn das durchkommt, verdiene ich 250 Franken weniger pro Monat», schätzt Ding. Schon jetzt geht er nicht aus, in den Ferien bleibt er zu Hause. Sparen? Unmöglich. «In Genf alle Rechnungen zu bezahlen, ist schwer genug.»
«Ich schicke Herrn Ettlin die Rechnung»
Auch Nancy Aguirre (60) kennt die Situation. Als sie erfuhr, dass der Mindestlohn gekürzt werden könnte, erlitt sie eine Angstattacke und landete im Spital. Sie, die im Stundenlohn in einem Hotel die Zimmer herrichtet, erhielt eine hohe Arztrechnung. «Da habe ich gedacht, ich schicke Herrn Ettlin die Rechnung.»
Der Mindestlohn sei für sie eine Erleichterung. «Das verändert das Leben. Man kann sich kleine Freuden leisten: keine Ferien, keine Reise, aber vielleicht mal einen Kaffee trinken.» Sie erinnert sich an die Zeit davor, als eine Freundin einmal vorschlug, gemeinsam essen zu gehen. «Ich sagte lieber Nein und lud sie zu mir nach Hause ein.»
Die Arbeit im Hotel sei hart. «Wir stehen jeden Tag auf den Beinen, in einem Tempo wie im Fitnessstudio. Doch am Monatsende tut es besonders weh: wenn ich auf den Lohnzettel schaue.» Markenkleider kauft sie nicht, stattdessen besitzt sie eine Caritas-Karte. «Wenn das Gesetz kommt, verliere ich wohl 300 Franken im Monat», schätzt Aguirre. «Für einen Ständerat, der 140’000 Franken im Jahr verdient, ist das wenig. Für uns ist es die Welt.»
Eine Weiterbildung? Schwierig
Weiterbildungen seien kaum möglich. «Wer in der Hotelbranche arbeitet, braucht jeden Rappen. Da kann man nicht tagelang fehlen, um zur Schule zu gehen.» Bei den Coiffeuren seien Weiterbildungen zwar möglich, erklärt Ding. «Mit einem Fachausweis würde ich 300 Franken mehr verdienen. Aber allein die Ausbildung kostet 15’000 Franken.»
Dass Unternehmen unter den höheren Löhnen leiden, glauben beide nicht. «Schliesslich wenden die Genfer Unternehmen den Mindestlohn schon seit fünf Jahren problemlos an», sagt Ding. Aguirre ergänzt: «Die grossen Hotelketten beuten die Mitarbeitenden aus, die auf die Jobs angewiesen sind, und reiben sich gleichzeitig die Hände, weil sie nicht mehr zahlen müssen.» Sie appelliert an die Ständeräte: «Ich möchte Sie daran erinnern, wie sauber Ihre Hotelzimmer sind. Dahinter stehen Menschen, die hart arbeiten – für sehr kleine Löhne.»
«Müssen die Sozialpartnerschaft schützen»
Ständerat Ettlin verteidigt seinen Vorschlag. «Es geht um eine Güterabwägung: Wenn der Bundesrat einen GAV für alle verbindlich macht, darf der Lohn nicht einseitig verändert werden. Sonst besteht die Gefahr, dass die Arbeitgeber keine neuen Verträge mehr schliessen.»
Gesamtarbeitsverträge seien wichtig. «Sie regeln nicht nur den Lohn, sondern auch Ferienansprüche, Weiterbildungsmöglichkeiten und so weiter.» Ettlin glaubt nicht, dass die Änderung zu weniger Lohn führt. «Die allermeisten verdienen mehr als den Mindestlohn im GAV. Ausserdem betrifft die Änderung nur Genf und Neuenburg. In allen anderen Kantonen ändert sich nichts.» Auch im Jura, Tessin und in Basel-Stadt gibt es Mindestlöhne. Dort gehen GAV aber vor. «Wir müssen einen kantonalen Flickenteppich verhindern.»
Der Bundesrat lehnte die Vorlage ab, 25 der 26 Kantone äusserten sich kritisch. Nur Ettlins Heimatkanton Obwalden unterstützte ihn. Dass kantonale Volksentscheide ausgehebelt werden, ist für Ettlin eine schwierige Entscheidung. «Aber die Sozialpartnerschaft ist ein wichtiger Pfeiler im Schweizer Arbeitsmarkt. Den müssen wir schützen.»