Darum gehts
- Noémie Roten trieb Initiative für Bürgerdienst voran, Abstimmung am 30. November
- Roten lernte in der Armee Hierarchien zu akzeptieren und respektvoll nachzufragen
- Initiative hat schweren Stand: Bundesrat, Parlament und fast alle Parteien dagegen
Alles begann mit einer Provokation. «Mit deinem Charakter hältst du im Militär keine drei Wochen durch», sagte ihr Vater zu Noémie Roten (36). Sie gehorchte ungern und konnte sich nicht unterordnen. Doch die Tochter wollte ihm das Gegenteil beweisen – und rückte freiwillig in die Kaserne ein. «Wenn junge Männer das müssen, sollte ich auch. Ich wollte die Organisation von innen kennenlernen, man hört ja so viel», dachte sich Roten.
Warum müssen Männer Dienst leisten, Frauen aber nicht? Die Frage treibt sie seither um. Sie ist der Kopf hinter der Service-Citoyen-Initiative, über die am 30. November abgestimmt wird: Alle jungen Männer und Frauen sollen einen Bürgerdienst leisten, in der Armee oder für die Gesellschaft. Etwa in der Feuerwehr, auf dem Bauernhof oder in einer Schule. «Das heutige System ist absurd. Es schliesst zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung aus.»
Stammtisch-Initiative
Im Militär wollte Roten zu den Fallschirmspringern. Doch beim Sporttest gabs zu wenig Punkte. Stattdessen landete sie bei den Lastwagenfahrern. «Ich habe mich gefreut. Mit 16 bin ich schon Motorrad gefahren, das bedeutet für mich Freiheit.»
In der Armee lernte sie, Hierarchien zu respektieren. Ihre Strategie: «Manchmal muss man das Gehirn ausschalten. Und manchmal respektvoll nachfragen. Meistens bekam ich eine vernünftige Antwort.»
Einige Monate später sass Roten am Stammtisch mit Kollegen aus Armee, Feuerwehr und Zivilschutz. Sie diskutierten über das Milizsystem. Es besagt, dass Bürger nebenberuflich oder ehrenamtlich öffentliche Aufgaben übernehmen. «Früher war das eine Stärke der Schweiz. Heute ist es fast schon ein Mythos», so Roten. «Unser Parlament besteht fast ausschliesslich aus Berufspolitikern, in den Gemeinden fehlen die Freiwilligen.»
Roten und ihre Kollegen starteten die Bürgerdienst-Initiative. «Wir waren schon etwas naiv.» Fürs Unterschriftensammeln hatten sie kaum Budget eingeplant. Im ersten halben Jahr kamen gerade mal 10'000 Unterschriften zusammen. Sie änderten die Strategie, sammelten Geld. «Die Leute spenden lieber, als draussen Unterschriften zu sammeln.» Roten professionalisierte ihr Team und beauftragte verschiedene Firmen, um die Signaturen einzutreiben. Doch zu viele davon waren ungültig. Sie erstattete Anzeige. Der sogenannte «Unterschriften-Bschiss» wurde öffentlich.
Die Initiative forderte sie. «Ich habe zeitweise 200 Prozent dafür gearbeitet. Ohne Lohn.» Roten senkte ihren Lebensstandard und kam dank eines kleinen Erbes ihres inzwischen verstorbenen Vaters über die Runden. «Ich hatte damals ohnehin keine Zeit, Geld auszugeben.»
Kritik an Bundesverwaltung
Seit kurzem lebt Roten mit ihrem Partner in Yverdon-les-Bains VD. Zu Hause fühlt sie sich in der ganzen Schweiz. Sie wohnte schon im Wallis, Winterthur ZH, Genf, Rorschach SG, Zürich und Solothurn. Während des Masters studierte sie in London.
Dort arbeitete sie für John Pugh (77), der im britischen Parlament sass. Roten lernt die Mechanismen der Politik kennen – und wie scharf die dortigen Politiker die Verwaltung kontrollieren. Etwas, was in der Schweiz fehle, sagt Roten. «Die Bundesverwaltung hat eine enorme Macht.»
Eine Macht, die sie kritisiert. Roten reichte eine Beschwerde ein, unter anderem weil im Abstimmungsbüchlein die Vorlage prominent als Beitrag zur Bewältigung des Klimawandels dargestellt wird. «Das ist nicht der Kern des Anliegens.» Das Bundesgericht wird entscheiden.
Die Service-Citoyen-Initiative hat einen schweren Stand. Zwar gab es in der ersten SRG-Umfrage noch eine knappe Mehrheit. Aber Bundesrat, Parlament und fast alle grossen Parteien sind dagegen.
«Die Initiative ist wirtschaftlich nicht sinnvoll und verursacht erhebliche Mehrkosten», sagt Verteidigungsminister Martin Pfister (62). Für Roten ist das eine Ausrede. «Statt nur in Ausrüstung wie Drohnen, die bei Nebel nicht selbst fliegen können, sollten wir es auch in Menschen investieren.»
Doch auch von feministischer Seite gibt es Kritik. SP-Nationalrätin Tamara Funiciello (35) sagte an einer Medienkonferenz, die Initiative sorge für mehr Ungerechtigkeit. Care-Arbeit werde hauptsächlich von Frauen geleistet. «Wir arbeiten bereits unentgeltlich und jetzt wird verlangt, dass wir noch mehr leisten.» Roten kann das nicht nachvollziehen. «Ja, Frauen leisten extrem viel, und das wird zu wenig anerkannt. Mit unserer Initiative bekommen sie dafür eine faire Entschädigung.»
«Heute sehen viele Arbeitgeber nur die Kosten»
Viele Firmen sehen es zudem ungern, wenn ihre jungen Mitarbeitenden direkt nach der Ausbildung in die Armee eingezogen werden. Kommt die Initiative durch, fehlen doppelt so viele junge Menschen. «In den 70er-Jahren wurden viel mehr Leute eingezogen und niemand hat gemeckert. Heute sehen viele Arbeitgeber nur die Kosten, nicht die Vorteile vom Milizengagement.» Den Sicherheitsbehörden fehle das Personal. «Schon bei zwei gleichzeitigen Katastrophen wie einem Unwetter und einem grossen Unfall ist der Zivilschutz überfordert.»
Roten selbst ist Militärrichterin. Nicht nur aus Pflichtgefühl. Als sie von einem jungen Mann erzählt, der nicht zum Dienst einrückte und Dutzende Briefe ungeöffnet liess, wird sie emotional. «Er hatte sein vier Monate altes Kind verloren. Da habe ich begriffen: Es kann auch mal etwas Wichtigeres geben als die Armee.»