Blattens Gemeindepräsident gibt Einblicke ins Dorfleben
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«Die Leute haben sich umarmt»:Blattens Gemeindepräsident gibt Einblicke ins Dorfleben

Naturkatastrophen am Berg
Wenn das Gemeindepräsidium plötzlich zur Lebensaufgabe wird

Ereignisse wie der Felssturz in Blatten VS sind für das angeschlagene Milizsystem ein Härtetest. Plötzlich müssen sich Gemeindepräsidenten auf der nationalen Bühne bewähren. Und ein Feierabendamt kann zur Lebensaufgabe werden.
Publiziert: 24.05.2025 um 21:10 Uhr
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Aktualisiert: 24.05.2025 um 23:22 Uhr
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Matthias Bellwald, Gemeindepräsident von Blatten.
Foto: Andrea Soltermann

Darum gehts

  • Schweizer Milizsystem in der Krise
  • Zusätzliche Herausforderungen durch Naturkatastrophen
  • Gemeindepräsidenten werden zu Vollzeit-Krisenmanagern
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Céline ZahnoRedaktorin Politik

Matthias Bellwald (63) zeigt auf den Berg. Da bröckelt es, das Kleine Nesthorn. «Gerade ist es noch harmlos», sagt er. Aber ein Rumpeln ist zu hören, mal steigt eine Staubwolke auf. Am Freitag war der Blattner Gemeindepräsident auf der Bergflanke unterwegs. «Es ist schon furchterregend, wenn man sieht, was da für eine Masse auf dem Gletscher liegt.»

Bellwald musste diese Woche mit wenig Schlaf auskommen. Erst im Januar hat der pensionierte Berufsoffizier das Gemeindepräsidium übernommen. Vier Monate später führt er das Dorf im Wallis durch die Herausforderungen eines drohenden Bergsturzes

Matthias Bellwald, Gemeindepräsident von Blatten.
Foto: Andrea Soltermann

In der Nacht auf Montag bildeten sich Risse im Gestein, das Dorf wurde evakuiert. Der grosse Bergsturz blieb aus, aber auf dem Gletscher türmte sich in den vergangenen Tagen ein grosser Schuttkegel auf. Entweder kommt es zu kleineren Eisabbrüchen – oder der Gletscher kollabiert. Dann stürzen Schutt und Eis zusammen den Berg hinunter. 

Hinter dem Gemeindepräsidenten tummeln sich Menschen im orangen Gilet, die den Berg mit einem Fernglas überwachen. Freiwillige aus dem Lötschental, die dem Krisenstab angehören. «Das Engagement ist gross», sagt Bellwald. «Wir sind fünf Gemeinderäte. Drei sind berufstätig, zwei pensioniert. Gerade setzten sich alle weit über ein Vollzeit-Pensum für die Gemeinde ein.»

Vom Feierabend-Amt zum Vollzeit-Job

In der Schweiz machen die Bürger den Staat. Sie sollen abstimmen, Initiativen ergreifen und dazu auch noch politische Ämter übernehmen. Es sind Bauern, Kauffrauen oder Treuhänder, die nebenbei eine Gemeinde führen. Wo die helvetische Demokratie wurzelt, sind oftmals Laien am Werk. 

Doch das Milizsystem kriselt. Viele Dörfer suchen händeringend nach Freiwilligen, um ihre Behörden und Exekutiven zu besetzen. Gemäss dem aktuellen Gemeindemonitoring der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften hat die Hälfte der Gemeinden Mühe, Personal für ihre politischen Ämter zu finden. 

Nun muss er sein Dorf durch die erste Katastrophe führen.
Foto: Andrea Soltermann

Kein Wunder: Gemeinderäte opfern Feierabende und Wochenenden für wenig Geld, auch Applaus ist selten. Und dann sind da noch Katastrophen wie gerade in Blatten VS. Die Existenz eines Dorfes steht auf dem Spiel. Plötzlich ist der Gemeindepräsident nicht mehr Feierabendpolitiker, sondern Krisenmanager, Pressesprecher, Hoffnungsträger. 

Matthias Bellwald trat vergangene Woche fast täglich vor die Medien, bei ihm laufen alle Fäden zusammen. Militärgrünes Sakko mit blauem Anstecker. Das Blattner Wappen. Die Bevölkerung hängt ihm an den Lippen, die ganze Schweizer Medienlandschaft berichtet live. 

«Stösst an seine Grenzen»

Einige dürften Bellwald in diesen Tagen besonders genau beobachten. Weil sie mit ihm mitfühlen. Für sie ist das Gemeindepräsidium vom Feierabendjob zur Lebensaufgabe geworden. 

Sommer 2023, der Hang über dem 80-Seelen-Dorf Brienz GR rutscht. Es ist eine Frage der Zeit, bis der Fels auf das Bündner Dorf hinunterstürzt. Der Mann der Stunde: Gemeindepräsident Daniel Albertin (54). 

Seit neun Jahren war er damals im Amt. «Ich bin einmal mit einem 30-Prozent-Pensum eingestiegen», sagt er. Mit seinem Landwirtschaftsbetrieb habe sich das gut vereinen lassen. «Die Woche hatte dann halt sieben Tage.»

Daniel Albertin, der Gemeindepräsident von Brienz.
Foto: Thomas Meier

Das ist lange her. Mittlerweile widmet Albertin einen Grossteil seiner Zeit dem Gemeindepräsidium. Als der Berg zu rutschen begann, spürte Albertin irgendwie, dass er das bald nicht mehr alleine schafft. Er holte einen Kommunikationsberater an seine Seite. Ein kluger Schachzug – denn schon bald musste er den versammelten Schweizer Medien Rede und Antwort stehen. «Es war unglaublich, wie viele Leute etwas von einem wissen wollten.»

Seither ist der Rest seines Lebens in den Hintergrund gerückt. «Es ist ein ständiges Organisieren.» Der Familienbetrieb laufe zu einem grossen Teil auch über seine Frau, zu Spitzenzeiten könne man auf ehemalige Lehrlinge zurückgreifen.

Albertin hat Hunderte Überstunden angehäuft. Das Pensum seines Amtes lässt sich gemäss Gemeindegesetz aber nicht auf mehr als 50 Prozent erhöhen. «Diese Überstunden hat man einfach gemacht», sagt er. «Ein Müssen war es nicht, sonst würde man dieses Amt nicht übernehmen. Aber man stösst an seine Grenzen.»

Albertin ist mit einem 30-Prozent-Pensum ins Gemeindepräsidium gestartet. Mittlerweile ist es zur Vollzeit-Aufgabe geworden.
Foto: Thomas Meier

Im vergangenen Sommer wollte er das Präsidium abgeben. «Ich bin mit dieser Situation gewachsen. Aber irgendwann ist genug.» Guten Mutes habe er einem Nachfolger Platz gemacht.

Aber Fehlanzeige: Die Suche nach Freiwilligen blieb erfolglos. Im November übernahm Albertin gezwungenermassen erneut das Zepter. Nur zwei Wochen später musste er Brienz ein zweites Mal evakuieren lassen. 

Kein Seufzen, kein Klagen. Aus seiner Stimme spricht aber Erleichterung, wenn er sagt, dass er auf die Erneuerungswahlen 2026 endgültig zurücktreten will. «Ich freue mich darauf, Zeit zu haben. Einfach Zeit.»

Milizsystem in der Krise

«Es ist beeindruckend, was diese Leute leisten», sagt Daniel Kübler. Er ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Zürich und forscht zur Politik in den Gemeinden. «Das sind Helden.» Sich so für einen Ort einzusetzen, brauche einen gewissen Gemeinsinn und viel Engagement. Klar, Kritik sei immer erlaubt, aber das gelte es hoch zu schätzen.

Auch ohne Katastrophen seien die Ämter teils anspruchsvoller als früher. Es gebe schwierige Entscheide zu treffen. «Gleichzeitig ist das Amt mit weniger Prestige verbunden und die Leute sind oft stärker im Berufsleben eingespannt.»

5000 Franken pro Jahr

Auch für Roland Squaratti (57) war das Gemeindepräsidium einmal ein Nebenjob. Ein paar Stunden nach Feierabend und zweimal im Monat Gemeinderatssitzung. Dann kam der Berg. Ohne Ankündigung. Im Oktober 2000 brach die Schutzmauer oberhalb von Gondo VS. Schlamm, Geröll und Bäume rissen eine Schneise der Verwüstung durchs Dorf. 

Squaratti zu Besuch bei Anna Giacometti in der Bündner Gemeinde Bondo.
Foto: Thomas Meier

Als Gemeindepräsident hätte er nach der Katastrophe lediglich Hintergrundarbeiten übernehmen sollen. Doch der Einsatzleiter, sein Bruder, hatte den Bergsturz nicht überlebt. Roland Squaratti blieb keine Zeit zu trauern. Er stand jetzt im Rampenlicht. «Ich hatte erst seit einem halben Jahr ein Natel, ständig trudelten Anfragen ein.» Sein Cousin übernahm schliesslich die Medienkommunikation – ohne offizielles Amt.

«Ich habe um 6 Uhr morgens angefangen und bin am Abend um 10 Uhr wieder zu Hause gewesen», sagt Squaratti. Sein Treuhandbüro habe er drei Monate lang nicht mehr gesehen. Jährlich erhielt er für sein Amt gerade einmal 5000 Franken Entschädigung. 

Heute schaut er den Blattner Einsatzleitern jeden Abend in den Nachrichten zu. «Wie es denen innerlich geht, sieht man nicht», sagt er. Sie funktionierten, gäben den Medien Auskunft, aber innerlich grabe es. «Wenn Wasser kommt, kannst du schwimmen oder untergehen.» 

Von der Gemeindepräsidentin zur Nationalrätin

Bergstürze können Menschen nicht nur physisch den Boden unter den Füssen wegziehen. Einige verlieren dauerhaft ihre Heimat, für Milizpolitiker werden die Naturereignisse zusätzlich zur enormen Belastungsprobe. Und können deren Lebensläufe prägen.

Ihr Einsatz bei der Katastrophe in Bondo GR brachte Anna Giacometti (63) bis in den Nationalrat. 2017 waren am Piz Cengalo mehr als drei Millionen Kubikmeter Gestein abgebrochen. Die Felsmassen wälzten sich bis ins Dorf, acht Menschen verloren ihr Leben. Als Gemeindepräsidentin erlangte die Bündnerin nationale Bekanntheit. Überraschend wurde sie zwei Jahre später ins eidgenössische Parlament gewählt.

«Der Blick der ganzen Nation richtet sich auf einen», sagt Giacometti. «Auf so etwas kann man sich nicht vorbereiten. Egal ob Milizpolitikerin oder nicht.» Wie man auf eine Katastrophe reagiere, das wisse man vorher nie. 

Roland Squaratti hat Anna Giacometti damals in Bondo besucht, auch mit Brienz steht sie in engem Kontakt. Die Bergsturz-Präsidenten, sie bilden eine kleine Schicksalsgemeinschaft. Wie Daniel Albertin verliess einst auch Squaratti den Stuhl des Gemeindepräsidenten bloss vorübergehend. 2004 hat er übergeben, vier Jahre später war das Amt wieder frei. Weil niemand zur Verfügung stand, sagte Squaratti nochmals Ja.

«Das liegt am Herzblut», sagt er. «Ich habe immer für die Gemeinde gelebt.»

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