Darum gehts
- «Ein geschwächtes Europa nützt niemandem»
- Enger Schulterschluss zwischen Berset und Selenski
- Bei den Wahlen 2023 in der Schweiz bestand das Risiko ausländischer Einmischung
Blick: Herr Generalsekretär, laut einer US-Zeitung wollen die USA die EU schwächen, indem sie Italien, Polen, Österreich und Ungarn zur Abwendung von Brüssel animieren. Ein geschwächtes Europa ist nicht im Interesse des Europarats, oder?
Alain Berset: Ein starkes, geeintes Europa liegt im Interesse aller – auch im Interesse des Europarats. Unsere Aufgabe ist es, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte auf dem ganzen Kontinent zu schützen. Dafür brauchen wir stabile Institutionen und verlässliche Partnerschaften. Der Europarat arbeitet mit allen Mitgliedern zusammen, um dieses gemeinsame Fundament zu stärken. Ein geschwächtes Europa nützt niemandem.
US-Präsident Trump kritisiert in einem Sicherheitspapier «elitäre, antidemokratische Einschränkungen der Grundfreiheiten in Europa». Müssen wir uns diese Einmischung gefallen lassen?
Das Papier erinnert mich stark an die Rede von US-Vizepräsident J. D. Vance in München. Ich war bei der Sicherheitskonferenz dabei, als Vance die Meinungsäusserungsfreiheit in Europa stark kritisierte. Ich hatte mit allem gerechnet – aber nicht damit. Auf jeden Fall sollten wir darauf cool und gelassen reagieren.
Warum raten Sie zu Coolness – und nicht zu Empörung?
Empörung kann etwas Gesundes haben, und ich gebe zu: Manchmal haue ich auf den Tisch, weil Eruptives produktiv sein kann. Aber die Lage ist zu ernst. Coolness und Klarheit bringen uns weiter. Wir müssen uns die Kritik aus Washington anhören und prüfen, was wir daraus lernen können, ohne damit Trumps Bewertungen zu bestätigen. Die grösste Gefahr für Europa geht aber von Russland aus. Es ist legitim, dass Europa stark aufrüstet. Wir müssen aber auch die Demokratie aufrüsten. Sonst kann es gefährlich werden.
Wie meinen Sie das?
Wir investieren so viel Geld wie seit langem nicht mehr in Waffen. Doch was passiert, wenn eine extremistische Gruppe die Macht in einem hochgerüsteten Land in fünf oder zehn Jahren übernimmt? Wir müssen Sicherheit ganzheitlich denken – dazu gehört auch die Frage, wie resilient unsere Demokratie ist.
Alain Berset (53) ist seit 2024 Generalsekretär des Europarats in Strassburg. Zuvor war er von 2012 bis 2023 Bundesrat und zweimal Bundespräsident. Der SP-Politiker erhielt kürzlich für seine Verdienste während der Corona-Pandemie die Ehrenpromotion der Uni Freiburg verliehen. Berset ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Er ist Hobbypilot und war früher als Mittelstreckenläufer erfolgreich.
Alain Berset (53) ist seit 2024 Generalsekretär des Europarats in Strassburg. Zuvor war er von 2012 bis 2023 Bundesrat und zweimal Bundespräsident. Der SP-Politiker erhielt kürzlich für seine Verdienste während der Corona-Pandemie die Ehrenpromotion der Uni Freiburg verliehen. Berset ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Er ist Hobbypilot und war früher als Mittelstreckenläufer erfolgreich.
Brauchen wir einen Demokratierausch?
Wir müssen uns langfristig für die Stabilität Europas engagieren. Nur über Waffen und Aufrüstung zu sprechen, bringt uns nicht die Stärke, die wir benötigen. Eine starke Demokratie braucht starke Institutionen.
Karin Keller-Sutter hatte Vances Münchner Rede gelobt, Pascal Couchepin scharf kritisiert. Wer hat recht?
Ich mische mich in diesen Streit nicht ein. Aber mich hat Vances Rede wirklich verblüfft. Europa ist ein starker Kontinent. Europa ist die Wiege der Demokratie, der Aufklärung, der Menschenrechte. Wir haben sehr starke Wurzeln.
Wie ist Ihr Verhältnis zum ukrainischen Präsidenten Selenski? Der mittlerweile verstorbene SVP-Nationalrat Alfred Heer, der sich sehr für Ihre Wahl eingesetzt hatte, meinte, Selenski habe Sie als Generalsekretär des Europarats verhindern wollen.
Erlauben Sie mir, dass ich mich zu Fredi äussere: Sein Tod hat mich tief getroffen. Politisch hatten wir grosse Differenzen, aber er war ein sehr engagierter Politiker. Ich habe grossen Respekt vor ihm, und wir alle im Europarat sind ihm für sein Wirken dankbar. Dialog mit Gleichgesinnten ist einfach – mit politischen Gegnern gehört das zur Pflicht. Ich habe mit Fredi viel gestritten. Trotzdem: Er fehlt, und wir vermissen ihn.
Hatte Alfred Heer mit seiner Selenski-Diagnose recht?
Nein. Ich habe keine Antipathie gespürt und kein Element gesehen, das diese These stützen würde. Mein Verhältnis zu Präsident Selenski ist sehr gut. Wir sind regelmässig in Kontakt. Er kam im Juni zu einem offiziellen Besuch zum Europarat, bei dem wir gemeinsam das bilaterale Abkommen zur Einrichtung eines Sondertribunals für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine unterzeichnet haben. Und wir sehen uns bald wieder.
Am Dienstag soll eine neue Konvention zur Einrichtung einer internationalen Entschädigungskommission verabschiedet werden. Was hat es damit auf sich?
Wir müssen uns auf die Zeit nach dem Krieg vorbereiten. 2023 haben wir uns dazu verpflichtet, ein Schadensregister zu schaffen, um alle Schäden zu dokumentieren. Die Menschen in der Ukraine haben ihr Hab und Gut verloren. Sie haben Anspruch auf Schadensersatz. Wir wollen nicht in einer Welt leben, in der Gewalt, Krieg und Zerstörung gewinnen – sondern Dialog, friedliche Beziehungen und Verantwortung sollen siegen. Wir setzen uns für eine regelbasierte Ordnung ein. Die neue Konvention ist ein nächster Schritt, weitere Schritte werden folgen.
Trump verhandelt mit Putin über die Zukunft der Ukraine. Welche Rolle hat der Europarat?
Der Europarat hat keine Waffen. Unsere Stärke liegt anderswo: Wir stehen für starke europäische Werte und Rechenschaft. Wir verfügen über eine einzigartige Erfahrung mit Mechanismen der Rechenschaftspflicht. Es ist klar, dass die Ukraine bei den Friedensgesprächen am Tisch sitzen muss. Es wird keine stabile Lösung gegen den Willen der Ukraine geben. Ich habe es sehr begrüsst, dass es zu einem Treffen zwischen den USA, der Ukraine und europäischen Vertretern in Genf gekommen ist.
Was sagen Sie zum Vorwurf, der Europarat sei eine Quasselbude?
Der Europarat wurde kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet. Er ist keine Institution für Schönwetterzeiten, sondern für schwierige Momente. Hier wird nicht nur diskutiert. Aber es gibt auch sehr schöne Sachen. Ein wenig bekanntes Beispiel: Wenn Sie im Ausland einen Job wollen, müssen Sie Sprachkenntnisse nachweisen, zum Beispiel B1-Kenntnisse in Deutsch oder Französisch. Dieses heute selbstverständliche System geht auf den Europarat zurück und ist für den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft von grosser Bedeutung. Oder das Arzneimittelsystem EDQM: Es ist die grösste Organisation der Welt, die Standards für die Qualität von Arzneimitteln setzt. Auch dieses System geht auf den Europarat zurück. Ich könnte noch viele weitere konkrete Beispiele nennen.
SVP-Politiker kritisieren immer wieder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg und machen Stimmung gegen fremde Richter.
Das sind keine fremden Richter. Jeder Mitgliedstaat stellt eine Richterin oder einen Richter am Gerichtshof. Derzeit gibt es sogar zwei Richter mit Schweizer Staatsangehörigkeit: einen für die Schweiz und einen für Liechtenstein. Der Europarat ist zutiefst schweizerisch. Wir ringen um einen fairen Kompromiss, setzen uns für die Stabilität der Institutionen ein, für Demokratie, Dialog, Rechtsstaat und die Verteidigung von Menschenrechten.
Zuletzt haben Bundesrat und Parlament das Urteil zugunsten der Klimaseniorinnen kritisiert.
Als es die Polemik in der Schweiz gab, habe ich gesagt: Wir müssen cool bleiben, das legt sich wieder. Kritik und Dialog gehören zu einer lebendigen Demokratie. Und der Europarat unterstützt seine Mitgliedstaaten – auch die Schweiz – dabei, demokratische Standards zu stärken.
Inwiefern?
Bei den letzten National- und Ständeratswahlen im Oktober 2023 haben Nachrichtendienste beobachtet, dass ein Risiko ausländischer Einmischung bestand. Als Europarat schauen wir genau hin und entwickeln Instrumente, um unsere Demokratien zu schützen und wirksam gegen ausländische Einmischung und Desinformation vorzugehen. All dies ist Teil des neuen demokratischen Pakts für Europa, die Antwort des Europarats auf die demokratische Erosion.