Darum gehts
- Neues Vergütungssystem für ambulante ärztliche Leistungen ab 2026
- Ärzteverband warnt vor Gefährdung der Patientensicherheit und höheren Gesundheitskosten
- Chirurginnen und Chirurgen drohen mit Klagen gegen neue Ärztetarife
Es brauche viel, bis sich ein Ärzteverband mit rund 9000 Mitgliedern geschlossen gegen etwas wehre, so Michele Genoni (68), Präsident des Schweizer Dachverbands aller chirurgisch und invasiv tätigen Spezialärztinnen und -ärzte FMCH. Im Falle der ab nächstem Jahr geltenden Ärztetarife sei der Fall jedoch klar: «Mit dem neuen Vergütungssystem droht ein Chaos!»
Ab 1. Januar 2026 sollen ambulante ärztliche Leistungen mittels neuer Pauschalen abgegolten werden. Für die Schweizer Chirurginnen und Chirurgen ein Horrorszenario: Aufwendige Eingriffe können dadurch oftmals nicht kostendeckend durchgeführt werden – und einfache Operationen werden zu hoch vergütet. «Wenn die Politik das Ruder nicht herumreisst, gehen wir vor Gericht», so Genoni.
Fehlende Kostendeckung für Eingriffe
Weshalb die Fachärztinnen und -ärzte sich so vehement wehren, lässt sich an einem Beispiel zeigen: Für einen Hals-, Nasen- und Ohrenarzt wird etwa ein einfacher, 60-minütiger Eingriff an der Speiseröhre zukünftig mit derselben Pauschale abgegolten wie eine technisch äusserst anspruchsvolle Entfernung eines grossen Gefässtumors, die rund zwei bis drei Stunden dauert. Statt wie bisher 220 Franken für den kurzen und 1300 Franken für den längeren Eingriff, gibts für beide 800 Franken.
«Solche Fälle gibt es zukünftig in allen Fachbereichen», sagt Genoni. Sie reichen von der Gesichtschirurgie bis zur Gynäkologie. Und sie könnten zu einer verheerenden Dynamik führen: Private Ärztinnen und Ärzte würden sich durch die fehlende Kostendeckung nicht mehr in der Lage sehen, die komplizierteren Operationen durchzuführen. «Stattdessen werden die Patientinnen und Patienten in ein Spital überwiesen.» Aufgrund der teureren Infrastruktur führe dies zu noch höheren Gesundheitskosten und Wartezeiten, warnt der FMCH.
Anästhesie befürchtet Qualitätseinbussen
Dazu kommt ein weiterer Effekt: In der Anästhesie könnte durch die pauschalen Abrechnungen die Patientensicherheit leiden. Bisher konnten bei einer Behandlung nämlich sowohl Chirurgin als auch Anästhesist ihre Leistungen direkt bei der Krankenversicherung abrechnen.
Im neuen Modell wird der Eingriff jedoch beim Chirurgen gebündelt. «Es ist somit den Versicherern nicht mehr möglich, die Qualifikationen der Anästhesistin oder des Anästhesisten zu überprüfen», sagt Charlotte Meier Buenzli (66), ehemalige Chefärztin Anästhesie des Kantonsspitals Nidwalden sowie Vizepräsidentin des FMCH.
Da die Leistungen anschliessend pauschal ausbezahlt werden, müssten Chirurgie und Anästhesie untereinander bestimmen, wie das Geld aufgeteilt wird. «Die Gefahr liegt auf der Hand, dass also einige Ärztinnen und Ärzte nicht mehr auf die Qualität achten, sondern die Fachpersonen auswählen, die am wenigsten Geld verlangen.»
Mehrfachbehandlungen werden wieder getrennt
Gleichzeitig würden die pauschalisierten Vergütungen dazu führen, dass Eingriffe, die aktuell gebündelt durchgeführt werden, wieder auf verschiedene Behandlungstage verteilt werden. «Ansonsten könnten sie nicht separat abgerechnet werden», sagt Meier Buenzli. Besonders Kinder seien damit plötzlich einem grösseren Risiko ausgesetzt. Sie müssen beispielsweise auch bereits bei einem MRI in die Vollnarkose, um verwackelte Bilder zu verhindern.
Zuständig für das Tarifchaos sieht der FMCH die Organisation ambulante Arzttarife (OAAT), ein Zusammenschluss der Schweizer Spitäler, Krankenversicherer und des Ärzteverbands FMH. Auch die Kantone haben Einsitz – der Berner Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg (62, SVP) ist Präsident des Verwaltungsrats.
Das Vorgehen widerspreche direkt den Bemühungen des Bundesrats, ambulante Eingriffe den stationären Behandlungen vorzuziehen, so die Chirurginnen und Chirurgen. Auch die Stimmbevölkerung hat sich mit Annahme der einheitlichen Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen (Efas) erst letztes Jahr dazu bekannt.
Wann reagiert Baume-Schneider?
Bereits im April hatte sich der Chirurgen-Verband daher mit einem Schreiben an Regierungsrat Schnegg gewandt. Es sollen doch zumindest die Eingriffe bereinigt werden, die laut Leistungsverordnung ambulant durchgeführt werden müssen, um überhaupt vergütet zu werden. Ansonsten sei die Versorgungssicherheit gefährdet. «Eine Antwort erhielten wir nie», sagt Genoni.
Laut Genoni können Spitäler und grosse Kliniken die Mehrkosten zwar abfedern. «Ein kleiner Betrieb wird aber wohl kaum Eingriffe durchführen, wenn sie nicht betriebswirtschaftlich sinnvoll sind. Der gesamte Verband zeigt sich daher solidarisch.» Und er probt bereits den Widerstand: «Wir werden alle Ärztinnen und Ärzte unterstützen, die sich gegen die Tarife wehren möchten.»
Dafür können die Medizinerinnen und Mediziner direkt vor Bundesverwaltungsgericht gehen: Das ambulante Tarifsystem liegt nämlich in der Verantwortung des Bundesrats. Der FMCH hofft darauf, dass das Gericht in seiner Prüfung zum Schluss kommen wird, dass gewisse Pauschalen tatsächlich gesetzeswidrig sind. Oder, dass Gesundheitsministerin Elisabeth Baume-Schneider (61, SP) doch noch das Steuer in die Hand nimmt. «Der Ball liegt aktuell beim Bundesrat», so Genoni.