Was Femizide in jungen Frauen auslösen
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Gespräch über Gewalt und Angst:Was Femizide in jungen Frauen auslösen

22 Femizide allein in diesem Jahr
Warum die Schweiz beim Schutz von Frauen versagt

Im Kanton Neuenburg hat ein Mann mutmasslich seine Ex-Partnerin getötet. Es wäre der 22. Femizid in diesem Jahr – ein trauriger Rekord. Beim Kampf dagegen schneidet die Schweiz im europäischen Vergleich schlecht ab. Aus mehreren Gründen.
Publiziert: 11:23 Uhr
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Aktualisiert: 13:29 Uhr
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Eine Mahnwache in Neuenburg, zum Gedenken der Opfer.
Foto: keystone-sda.ch

Vor einem unscheinbaren, beigen Wohnhaus in Corcelles NE liegen Rosen. Sie gedenken der Opfer einer schrecklichen Tat: Ein Mann (52) hat hier mutmasslich seine Ex-Frau (†47) und die gemeinsamen Töchter (†3 und †10) getötet. Im Juni hatte sich das Paar getrennt.

Die Polizei kannte den Mann. Zwischen 2020 und 2022 rückte sie seinetwegen wiederholt aus. Mal ging es um häusliche Gewalt, dann um Sachbeschädigung, wegen Letzterer wurde er verurteilt. Unter polizeilicher Beobachtung stand er dennoch nicht. Hinweise auf eine bevorstehende Gewalttat habe es nicht gegeben, erklärt die Neuenburger Kriminalpolizei.

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Dabei ist die Bluttat von Corcelles kein Einzelfall, sondern Teil einer traurigen Entwicklung. In der Schweiz wurden im laufenden Jahr mehr Frauen und Mädchen getötet als im gesamten letzten Jahr. Stand jetzt gab es 22 Femizide, also Tötungsdelikte, bei denen das Geschlecht im Vordergrund steht – bei denen Männer Frauen töten, weil sie Frauen sind. In neun weiteren Fällen kam es zu einem versuchten Femizid.

Diese bittere Bilanz zwingt zu einer Frage: Weshalb schützt die Schweiz Frauen nicht besser?

Es hapert bei der Umsetzung

Es fängt schon bei den Zahlen an: Offizielle Statistiken zu Femiziden fehlen, unter anderem, weil es keine strafrechtliche Definition des Begriffs gibt. Statt Behörden erfasst daher ein privates Recherchekollektiv, «Stop Femizid», diese Daten. Es durchforstet Medienberichte, scannt Polizeimeldungen und trägt zumindest einen Teil der Fälle zusammen.

Dabei verpflichtet die Istanbul-Konvention, die seit 2018 gilt, genau dazu: Daten zu sammeln, Gewalt zu dokumentieren, Frauen und Mädchen zu schützen. Die Schweiz hat das internationale Abkommen unterschrieben und einen Aktionsplan erarbeitet. Doch bei der Umsetzung hapert es. Von 44 vorgesehenen Massnahmen sind 23 noch nicht realisiert. Und 2026 läuft der Aktionsplan aus.

Bereits 2022 gab es deshalb eine Rüge. Eine Expertengruppe des Europarats, Grevio genannt, kritisierte die Schweiz in ihrem Bericht. Zu wenig werde in die Prävention investiert, in den Opferschutz und in Frauenhäuser. Andere Länder sind viel weiter, allen voran Spanien. Dort gibt es eine zentrale Datenbank, in der jede Tat gegen eine Frau erfasst wird. Potenzielle Täter lassen sich mit Fussfesseln national überwachen, rund um die Uhr, notfalls rückt die Polizei aus.

Das engmaschige System und die vielen Massnahmen zeigen Wirkung. In den letzten 20 Jahren hat die Zahl der Femizide in Spanien deutlich abgenommen. Heute ist das Risiko für Frauen, durch häusliche Gewalt zu sterben, fünfmal geringer als in der Schweiz.

Eigentlich gäbe es einen Plan

Der Plan, wie Frauen besser zu schützen sind, existiert. Woran es fehlt, ist vielfach der politische Wille. So gibt es in der Schweiz kein nationales Gewaltschutzgesetz. Das Parlament hat es 2009 abgelehnt. Stattdessen regiert der Kantönligeist. Massnahmen haben zwar alle erlassen, aber nur acht Kantone (alle in der Westschweiz, Obwalden und Zürich) haben ein Gesetz, das den Schutz vor Gewalt gegen Frauen regelt.

Fortschrittlich sind eher urbane Regionen, mit Zürich als Vorreiter. Dort läuft ein Pilotprojekt mit «Forensic Nurses» – speziell geschultes Pflegepersonal für Opfer, das Spuren von Gewalt sichern kann, ohne die Polizei einzuschalten. Eine Massnahme, um die Hemmschwelle bei Betroffenen zu senken, damit sie frühzeitig Hilfe holen. Und damit Beweise sichergestellt werden, bevor sie verloren gehen. Ob die Opfer Anzeige erstatten, entscheiden sie später. Zudem hat Zürich ein Jahr lang elektronische Fussfesseln getestet, um mögliche Täter nach spanischem Vorbild zu überwachen. Die Pilotstudie will der Kanton im September veröffentlichen.

Nicht überall handelt die Politik so entschieden. Manche Kantone haben kein einziges Frauenhaus, wo Gewaltopfer Schutz finden – so Glarus, Uri, Nidwalden, Obwalden, Jura, Schwyz und Schaffhausen –, während die bestehenden Frauenhäuser mit übervollen Betten und knappen Budgets kämpfen. In anderen Worten: Wie gut eine Frau in der Schweiz geschützt ist, hängt von ihrem Wohnort ab.

Genau darin sieht Paula Krüger ein Kernproblem. Die Professorin an der Hochschule Luzern erforscht seit Jahren das Thema häusliche Gewalt und begleitet Studien im Auftrag des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung (EBG). «Der Schweiz fehlt immer noch ein nationaler Ansatz zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt», sagt Krüger. Ebenso unzureichend seien die bisherigen finanziellen Investitionen, wie bereits die Expertengruppe Grevio kritisierte.

Wer ist verantwortlich?

Es sind Symptome einer Politik, in der sich niemand zuständig fühlt. Die Kantone erlassen ihre Gesetze. Das EGB koordiniert die Umsetzung der Istanbul-Konvention. Das Justizdepartement pflegt wiederum einen «strategischen Austausch» mit den Kantonen, mittels einer sogenannten «Roadmap» gegen häusliche Gewalt. Daneben tagen diverse kantonale Konferenzen, auch NGOs mischen mit. Dass so viele Akteure beteiligt sind, ist insofern positiv, als sich Gewalt gegen Frauen nur gesamtgesellschaftlich bekämpfen lässt. Doch wenn viele mitreden, fühlt sich am Ende keiner verantwortlich.

Die Trägheit der Verwaltung kommt hinzu. Paradebeispiel ist die nationale Notrufnummer 142 für Opfer häuslicher Gewalt. Seit Jahren will der Bund sie einführen. Doch um eine dreistellige Nummer lancieren zu können, braucht es (so die Vorschrift!) eine Verordnungsänderung – samt internen Abklärungen, Konsultationen und einer Vernehmlassung, die erst im Oktober endet.

Geplant war, die Nummer Anfang dieses Jahres einzuführen. Dann hiess es November 2025. Jetzt soll sie ab Mai 2026 verfügbar sein. Und das nur, weil das zuständige Bundesamt für Kommunikation (Bakom) die Nummer provisorisch – mittels eines juristischen Kniffs – im Februar lanciert hat, vor Ende der Vernehmlassung. Ohne dieses Buebetrickli, heisst es im Bakom, hätte sich die Einführung wohl bis 2027 verzögert. Nun laufen noch technische Abklärungen – eine weitere Herausforderung. Denn die Schweiz hat seit mehr als 20 Jahren keine Kurznummer mehr eingeführt.

Zeichen stehen auf Fortschritt

Dabei gestaltet sich nicht alles derart langwierig. In den letzten Jahren ist in Bezug auf häusliche Gewalt einiges vorangekommen. Etwa die Teilrevision des Opferhilfegesetzes, die im Gange ist. Oder die mehrjährige nationale Präventionskampagne gegen häusliche, sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt, die der Bund im November lanciert. Im Juni haben Bund, Kantone und Gemeinden zudem Notmassnahmen ergriffen, weil die vielen Tötungsdelikte gegen Frauen «alarmierend» seien. In der offiziellen Mitteilung verwendete der Bund erstmals den Begriff «Femizid». Ein Hinweis darauf, dass das Thema auf höchster politischer Ebene angekommen ist.

Auch im Parlament tut sich etwas. Im März nahm der Nationalrat ein Postulat der Grünen-Nationalrätin Sibel Arslan (45) an. Damit wird der Bundesrat beauftragt, abzuklären, ob und wie Femizide in der Schweiz statistisch erfasst werden können. Noch im September 2024 war Arslans Antrag bekämpft und vertagt worden. Bereits ein ähnliches Begehren von SP-Nationalrätin Tamara Funiciello (35) schaffte es 2021 nicht durch die Räte.

«Sämtliche Massnahmen sind auf Kurs», schreibt das Eidgenössische Büro für Gleichstellung auf Anfrage. Ob dem so ist, entscheidet sich im Oktober. Dann veröffentlicht das Expertengremium Grevio den zweiten Bericht zur Umsetzung der Istanbul-Konvention. Doch selbst wenn die Zeichen auf Fortschritt stehen: Für die Opfer aus Corcelles und viele weitere Frauen kommt dieser leider zu spät.

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