Darum gehts
- Stefan Haupt verfilmt Max Frischs Roman «Stiller» mit vielversprechendem Beginn
- Sven Schelker überzeugt in der Hauptrolle des Anatol Stiller
- Der 90-minütige Film basiert auf Frischs 450-seitigem Roman
Als ich neulich auf dem Weg ins Büro an der Zürcher Kronenhalle vorbeispaziert bin, hat mich meine Fantasie übermannt. An meinem Nebentisch sitzen Max Frisch (1911–1991) und Friedrich Dürrenmatt (1921–1990), gerade wird ihnen das berüchtigte Bollito misto serviert. Zwischen Kalbskopf, Bouillon und einem Stück Wirz kann ich hören, wie Frisch beginnt, über die Verfilmung seines Jahrhundertromans «Stiller» zu sinnieren. Und irgendwann sagt: «Ich bin nicht hässig – aber enttäuscht.» Dürrenmatt nickt bedächtig. So oder so ähnlich könnte es sich zugetragen haben – würde das grösste Literaten-Duo der Schweiz heute noch leben.
Was hat Regisseur Stefan Haupt (64) bloss mit dem Buch angestellt? Die Antwort ist so simpel wie ernüchternd: nicht besonders viel. Der Witz – dem Filmemacher kann man nicht mal einen wirklichen Vorwurf machen.
Das Original ist bereits schwere Kost
«Stiller» ist in der Papierform knapp 450 Seiten Interpretations-Duselei. Jeder, der die Freude hatte, Frischs wohl bekanntesten Roman in der Oberstufe zu lesen, weiss um diese zähe Kost – und wünschte sich während der Lektüre oft nichts sehnlicher als einen Kioskroman oder zumindest leichtere (wenn nicht weniger raffinierte!) Kost à la Dürrenmatt.
Die Geschichte beginnt mit der Verhaftung des Amerikaners James Larkin White in Zürich. Man hält ihn für den Schweizer Bildhauer Anatol Stiller, einen Kommunisten-Kollaborateur, der bereits vor Jahren verschollen ist. In Tagebuchaufzeichnungen und Verhören entfaltet sich die Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit, seinen Beziehungen und der Frage nach Identität und Wahrheit.
Sven Schelker in der Rolle seines Lebens
Spoiler-Alarm: Am Ende von «Stiller» gesteht sich der Erzähler schliesslich ein, dass er tatsächlich Anatol Ludwig Stiller ist – auch wenn er sich lange geweigert hatte, diese Identität anzunehmen. Zurück bleiben die gebrochene Ehefrau Julika und oftmals verwirrte Leserinnen und Leser. Die Ausgangslage für eine 90-minütige Verfilmung ist zwar reizvoll – aber gelinde gesagt ungünstig.
Es ist Stefan Haupt hoch anzurechnen, dass er sich überhaupt an diesen Stoff gewagt hat. Tatsächlich beginnt der Film vielversprechend: Ohne viel Gefasel katapultiert uns der Regisseur in die Handlung. Er hat mit Albert Schuch (40, als White), Paula Beer (30, als Julika) und Sven Schelker (35, als Stiller) drei äusserst talentierte Hauptdarsteller engagiert; vor allem der Basler Schelker übertrumpft seine bereits eindrucksvolle Darbietung in «Bruno Manser» noch einmal. Leider sehen wir ihn aber nur in der ersten Hälfte des Films.
Nicht ausgeschöpftes Potenzial
Dann wird es allerdings problematisch – weil der Filmemacher in zu kurzer Zeit zu ambitioniert ist. Haupt versucht, mittels Rückblenden Ordnung ins zeitliche Wirrwarr zu bringen. Die Schwarz-Weiss-Blenden wirken dabei oftmals etwas billig – und täuschen über das ansonsten äusserst liebevoll gestaltete Szenenbild hinweg. Klar ist aber auch: Eine wirkliche Alternative hätte es angesichts der Dutzenden Zeitsprünge gar nicht gegeben. Nach dieser Erkenntnis hat Haupt das Publikum bereits verloren. Er ist aber auch nicht zu beneiden.
In der Folge beschränkt sich der «Stiller»-Film auf das Wesentliche: die Abarbeitung an der (komplizierten) Beziehung zwischen Stiller beziehungsweise Larkin und Julika. Die Szenen sind visuell ansprechend, würden Literaturkritiker-Papst Marcel Reich-Ranicki (1920–2013) aber zur Weissglut treiben: Sie sind banal. Und obwohl die Freundschaft zwischen Stiller/Larkin und Staatsanwalt Rolf (Max Simonischek, 42) – und vor allem die Liaison zu dessen Ehefrau Sibylle (Marie Leuenberger, 45) – thematisiert wird, verkommt sie zum unausgereiften Nebenschauplatz. Gerade hier liegt filmisches Potenzial brach.
Finger weg von Frisch?
Was rät der Filmexperte nun dem arrivierten Regisseur? Erst einmal gar nichts – das wäre frech. Um es aber mit den Worten von Fussballtrainer-Legende Christian Gross zu formulieren: «Nöd als Kritik, als Aaregig!» Die erste Option: Stefan Haupt hätte es sein lassen können. Sich an einem derart bedeutungsschwangeren Werk abzuarbeiten, ist ein Wagnis. Option zwei: Haupt hätte noch mutiger sein und «Stiller» komplett neu interpretieren können. Option drei: Vermutlich wäre dem Stoff mehr gedient gewesen, wenn man ihn als Serie konzipiert hätte – 90 Minuten reichen nicht. Option vier: Warum Frisch verfilmen, wenn es Dürrenmatt gibt?
«Stiller» feiert am Zurich Film Festival (ZFF) seine Schweizer Premiere und läuft in der Deutschschweiz regulär ab dem 16. Oktober im Kino.