Oliver Baer will mit seiner Geschichte andere ermutigen
«Der Alkohol war mein Freund, er war immer da»

Bis zu sechs Flaschen Weisswein hat Oliver Baer (37) abends getrunken. Das ist die Geschichte von einem, der jahrelang funktionierte und innerlich immer mehr zerbrach. Jetzt kämpft er dafür, dass wir offen über Sucht reden.
Publiziert: 31.05.2025 um 17:48 Uhr
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Aktualisiert: 31.05.2025 um 18:04 Uhr
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Oliver Baer war erfolgreicher Fotograf und wurde alkoholabhängig. Er will mit seiner Geschichte ein Zeichen setzen: für mehr Dialog, gegen Scham.
Foto: Oliver Baer

Darum gehts

  • Oliver Baer war alkoholsüchtig und arbeitet an Buch über sein Leben
  • Als funktionaler Alkoholiker versteckte er seine Sucht, verlor Familie und Karriere als Fotograf
  • Seit zwei Jahren und fünf Wochen ist der 37-Jährige trocken
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Alexandra FitzCo-Ressortleiterin Gesellschaft

Der 24. April 2023 markiert Oliver Baers Neuanfang. An diesem Abend ist er total betrunken. Wieder einmal. Doch an diesem Abend will er Schluss machen. Sein Leben beenden. Er ruft seine Schwester an und sagt zum ersten Mal, was schon lange klar ist: «Ich brauche Hilfe.» Dem Notfalldienst der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) muss er am Telefon versprechen, dass er sich nichts antut und am nächsten Morgen um 10 Uhr in der Klinik erscheint. 

Als er am Folgetag sein Zimmer bezieht, weiss er: Hier wird es heute Abend kein Bier geben. Auch die nächsten sechs Wochen nicht. Baer bleibt stationär. Der damals 35-Jährige will keine Medikamente. Keine Benzodiazepine, Beruhigungsmittel, die Entzugserscheinungen mildern. Er will einen kalten Entzug. Muskelkater, Magenschmerzen, Kopfweh, Schweissausbrüche. «Ich musste jede Nacht duschen und die Matratze umkehren», erzählt Baer an einem Morgen am Zürichsee. Sein behandelnder Arzt Markus Götschi (36) sagt dazu: «Diese Art Entzug kann gefährlich sein, wir empfehlen das ganz klar nicht. Wir wollen die Person unterstützen, abstinent zu werden, und nicht bestrafen. Einen kalten Entzug will man niemandem zumuten.» Baer sagt: «Ich habe mich jahrelang selber zerstört, das war die Quittung dafür.»

Nach aussen funktionieren, innerlich zerbrechen

Sein Alkoholkonsum nimmt über Jahre schleppend zu. Es fängt mit einem Feierabendbier an und hört bei fünf bis sechs Flaschen Weisswein auf. Oliver Baer ist selbständiger Fotograf, lichtet Schweizer Musikstars ab. Er sucht Aufmerksamkeit und Anerkennung und setzt sich dabei unter Druck. «Am Tag lieferte ich ab, versteckte mich hinter der Kamera, aber innerlich zerbröselte ich», sagt Baer. Es kommen private Krisen hinzu. Funktionale Alkoholiker sind praktisch nie nüchtern und haben deshalb kaum Kater. Nach aussen funktionieren sie auf einem konstanten Niveau. Baer versteckt seinen Alkoholismus und trinkt abends alleine zu Hause. «Der Alkohol war mein Freund. Er war immer da», sagt er. «Ich weiss nicht mehr, wie oft ich in der Dusche kotzte, danach ein Schmerzmittel schluckte und am nächsten Tag aufstand und arbeiten ging.» 

Seine Kunden merken nichts. «Die Leute haben lieber mit erfolgreichen Menschen zu tun, als mit solchen, die krank sind», sagt er dazu. Ab und zu füllt er sich Weisswein in PET-Flaschen, um den Tag durchzustehen. Eine Zahnbürste und Dragees für einen guten Atem als ständige Begleiter.

Alkoholsucht – Zahlen und Fakten von Sucht Schweiz

In der Schweiz leben schätzungsweise 250 000 alkoholabhängige Menschen. Das entspricht fast der Einwohnerzahl der Städte Bern und Lausanne zusammen. Laut Sucht Schweiz haben die Behandlungseintritte aufgrund von Alkohol bis 2018 abgenommen, steigen seither aber wieder an. Im Jahr 2022 haben knapp 40 000 Personen wegen einer Suchtproblematik eine Behandlung in einer ambulanten (64 Prozent) oder stationären (36 Prozent) Suchthilfeeinrichtung aufgenommen. Die Hälfte davon sind hauptsächlich aufgrund einer Alkoholproblematik in Behandlung. 

83 Prozent der Schweizer Bevölkerung trinkt ab 15 Jahren Alkohol. Dieser Anteil hat sich in den letzten 30 Jahren kaum verändert.

Menschen mit Alkoholproblem oder -abhängigkeit werden als willensschwach oder unzuverlässig eingestuft und für ihre Abhängigkeit selbst verantwortlich gemacht. Die gesellschaftliche Abwertung und Ausgrenzung stellt für Betroffene eine zusätzliche Bürde dar. Die Stigmatisierung hat weitreichende Folgen: Sie stigmatisieren sich oft selbst und entwickeln ein geringeres Selbstwertgefühl. Deshalb zögern sie die Hilfesuche so lange wie möglich heraus oder verzichten vollständig darauf. 

Alkoholmissbrauch kann in allen Gesellschaftsschichten vorkommen, unabhängig von Status und Bildung. Jeder kann von problematischem Alkoholkonsum betroffen sein. 

Der funktionale Alkoholkonsum, wie ihn Oliver Baer erlebte, vermittelt der konsumierenden Person den Eindruck, dass sie ihren Konsum unter Kontrolle hat und dass er keine Konsequenzen für sie oder ihre Angehörigen hat. Alkohol wird oft als «Bewältigungsstrategie» eingesetzt, um eine schwierige Phase zu überstehen. Sucht Schweiz gibt zu bedenken, dass Alkohol nie eine gute «Hilfe» ist, um «besser zu funktionieren».

Bei Alkohol kann man recht genaue Angaben machen, was ein risikoarmer Konsum ist. Auf der Website www.alkohohlkonsum.ch erfahren Interessierte, wo sie mit ihrem Konsum stehen, wie man es schafft, weniger zu trinken und wo man Unterstützung bekommt, wenn der Alkoholkonsum zu viel wird oder bereits geworden ist. 

In der Schweiz leben schätzungsweise 250 000 alkoholabhängige Menschen. Das entspricht fast der Einwohnerzahl der Städte Bern und Lausanne zusammen. Laut Sucht Schweiz haben die Behandlungseintritte aufgrund von Alkohol bis 2018 abgenommen, steigen seither aber wieder an. Im Jahr 2022 haben knapp 40 000 Personen wegen einer Suchtproblematik eine Behandlung in einer ambulanten (64 Prozent) oder stationären (36 Prozent) Suchthilfeeinrichtung aufgenommen. Die Hälfte davon sind hauptsächlich aufgrund einer Alkoholproblematik in Behandlung. 

83 Prozent der Schweizer Bevölkerung trinkt ab 15 Jahren Alkohol. Dieser Anteil hat sich in den letzten 30 Jahren kaum verändert.

Menschen mit Alkoholproblem oder -abhängigkeit werden als willensschwach oder unzuverlässig eingestuft und für ihre Abhängigkeit selbst verantwortlich gemacht. Die gesellschaftliche Abwertung und Ausgrenzung stellt für Betroffene eine zusätzliche Bürde dar. Die Stigmatisierung hat weitreichende Folgen: Sie stigmatisieren sich oft selbst und entwickeln ein geringeres Selbstwertgefühl. Deshalb zögern sie die Hilfesuche so lange wie möglich heraus oder verzichten vollständig darauf. 

Alkoholmissbrauch kann in allen Gesellschaftsschichten vorkommen, unabhängig von Status und Bildung. Jeder kann von problematischem Alkoholkonsum betroffen sein. 

Der funktionale Alkoholkonsum, wie ihn Oliver Baer erlebte, vermittelt der konsumierenden Person den Eindruck, dass sie ihren Konsum unter Kontrolle hat und dass er keine Konsequenzen für sie oder ihre Angehörigen hat. Alkohol wird oft als «Bewältigungsstrategie» eingesetzt, um eine schwierige Phase zu überstehen. Sucht Schweiz gibt zu bedenken, dass Alkohol nie eine gute «Hilfe» ist, um «besser zu funktionieren».

Bei Alkohol kann man recht genaue Angaben machen, was ein risikoarmer Konsum ist. Auf der Website www.alkohohlkonsum.ch erfahren Interessierte, wo sie mit ihrem Konsum stehen, wie man es schafft, weniger zu trinken und wo man Unterstützung bekommt, wenn der Alkoholkonsum zu viel wird oder bereits geworden ist. 

Bei Familienzusammenkünften kennt er kein Mass, verletzt seine Liebsten mit Worten. Seine Familie distanziert sich, seine Frau trennt sich nach zwölf Jahren an Weihnachten 2022. Hat sie nichts gemerkt? Arzt Götschi sagt: «Durch die Gewöhnung kann man sich normal verhalten. Das Berauschtsein nimmt ab.» Baer entsorgt das Altglas, bevor seine Frau nach Hause kommt. «Wenn sie mich auf mein Trinken ansprach, ging es da rein und da wieder raus», sagt Baer und zeigt auf seine Ohren. Er verbirgt seinen Kopf in den Händen. «Ich kann es nicht schönreden. Das tut mir einfach so leid», sagt Baer mit Tränen in den Augen. Nach der Trennung zieht er alleine in eine Wohnung und fällt immer tiefer. «Der pure Absturz.» Bis zum 24. April. Sechs Wochen stationärer Klinikaufenthalt. 

Seine Mission, andere zu ermutigen

Am 16. Mai schreibt er ein Abschiedsmail an seine Kunden. Betreff: Goodbye. Er bedankt sich für die gemeinsame Zeit und kündigt eine Pause an, um sich neu zu orientieren. Seit zwei Jahren und fünf Wochen ist Oliver Baer trocken, aber eine Kamera nimmt er nicht mehr in die Hand. Seine Ausrüstung hat er verkauft. «Ich kann nicht mehr für Geld fotografieren.» Eine letzte Fotostrecke wird er noch machen, mit nüchternem Blick wird er Orte, die ihn prägten, für die Photo-Schweiz-Ausstellung im Februar 2026 dokumentieren. Baer setzt alles auf eine Karte, auf seine Geschichte. Er arbeitet an einem autobiografischen Buch. «Belichtet & Benebelt. Eine fotografische Chronik im Rausch» soll es heissen. Es sei seine Abrechnung mit einer Zeit, in der er alles festhielt – aber sich selbst verlor. 

Baer beginnt mit seiner Kindheit, mit den Eltern, die sich scheiden liessen, thematisiert den Ausbildungsabbruch, die eigene Verschuldung, den Erfolg mit seinen Bildern, die zerplatzte Ehe, den Alkohol, die Sucht, schreibt über seine Mutter, die nach einem Autounfall aufgrund ihrer Schmerzen über die Jahre morphinabhängig geworden war. Morgen ist ihr erster Todestag. «Ich wünschte mir einfach, dass sie da ist.» Als der 37-Jährige am Seeufer diesen Teil seiner Geschichte erzählt, bricht seine Stimme: «Ich brauche eine Pause.» 

Dieses ganze Leid, das er sich selbst zufügte, soll wenigstens einen Nutzen haben. Vielleicht, sagt er, kann er mit seiner Geschichte andere ermutigen, sich helfen zu lassen. «Ich möchte, dass wir aufhören, zu verurteilen, sondern über Alkohol sprechen», sagt Baer. Ehrlich und ohne Scham. Der Entzug und die Nüchternheit haben ihm eine Stärke verliehen, die ihn antreibt. Er dachte jahrelang, im Vollrausch habe er die kreativsten Ideen. «Ich habe mich getäuscht. Jetzt bin ich kreativ, mit klarem Kopf. Ich bin das erste Mal mich selbst. Das ist schön und tut weh zugleich.»

«Bis heute haben wir uns nicht ausgesprochen»

Nach dem Klinikaufenthalt macht er eine ambulante Therapie. Ende 2023 merkt er, dass er auf dem richtigen Weg ist. Natürlich hat er Angst vor Rückfällen. In Stresssituationen hat er manchmal Lust auf Alkohol. Mit einem immer gleichen, klassischen Musikstück versucht er sie abzuschwächen. Manchmal trinkt Baer alkoholfreies Bier oder Whisky ohne Alkohol. «Ob das gefährlich ist?», fragt sich Baer. Darüber wird gemäss Mediziner Götschi in Fachkreisen diskutiert. Man tendiere dazu, keine alkoholfreien Getränke zu empfehlen, weil man so das Verhaltensmuster «zum Bier greifen» nicht durchbreche, und das berge die Gefahr, dass man schnell wieder zum Bier mit Alkohol greife. «Man reaktiviert das Suchthirn bis zu einem gewissen Grad», sagt Götschi. 

Eine Sucht ist etwas, was man ein ganzes Leben mitzieht. Aber Oliver Baer hat sich ihr gestellt. Eine Sache belastet ihn noch sehr. Das Verhältnis zu seinen Engsten. Mit seiner Ex-Frau habe er heute einen guten Kontakt, die Trennung sei harmonisch gewesen. Doch die Beziehung zu seiner Familie, der Schwester, dem Vater und dessen Partnerin, die ist zerbrochen. «Ich habe die Ressourcen meiner Familie massiv strapaziert. Ich habe versucht, die Schäden, die entstanden sind, zu reparieren. Ich musste aufgeben. Bis heute haben wir uns nicht ausgesprochen.»

Seine Familie weiss noch nichts von seinem Buchprojekt und von seinem Engagement gegen Alkoholmissbrauch. Vielleicht wird dies ihren Blick auf Oliver Baer mildern. Und sie auch seinen Mut erkennen lassen. 

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